aus dem Forum Wiederaufbau Paulinerkirche Leipzig (7670)

geschrieben am 30. Mai 2006 01:56:40:

4.7 Transparenz - Exkurs: Der Lackmustest

Die inneren Geschehnisse beim Auflösungsprozeß der ehemaligen DDR sind immer noch nicht schlüssig aufbereitet worden. D.h. immer wieder tauchen einzelne „Stasi-Fälle“ auf, ohne daß das System in den notwendigen Zusammenhängen betrachtet wird. Daher wird es in diesem Punkt einmal darum gehen, die damaligen Abläufe sowohl des Machterhalts der SED mitsamt ihrem damit verbundenen Spitzelkaderbestand als auch die „Flucht-nach-vorn-Bewegung“ verstehen zu lernen.

Prinzip der „Kundschafter der unsichtbaren Front“ war, stets überall dabei zu sein und ggf. möglichst mit an der Spitze der Entwicklungen zu stehen, um diese zu steuern und zu lenken.

D.h. spätestens nach der Frühjahrsmesse 1989 und nachdem zu viele zu den Friedensgebeten der Nikolaikirche anreisten, so daß die Tütchenunterscheidung (damit die Spitzel sich nicht gegenseitig unbekannterweise auflauerten) nicht mehr funktionierte, kamen kaum mehr lösbare Aufgaben u.a. folgende Organe zu:

- HA XX Staatsapparat, Kultur, Kirche – zuständig für den „Untergrund“

- HA A, Zuständigkeitsbereich „Regimefragen“ und Schleusungen

- Zentrale Koordinierungsgruppe für Flucht und Übersiedlung

- HA A Sabotagevorbereitung

D.h. gleichzeitig Leute vom Grenzübertritt in Ungarn abzuhalten, gleichzeitig mit Leute über diese Grenze zu schicken, gleichzeitig zu rufen „Ich will hier raus!“ und gleichzeitig zu rufen „Wir bleiben hier!“ – das war dann doch zuviel, selbst für so einen gigantischen Apparat wie das Ministerium für Staatssicherheit der DDR.

Das heißt aber auch, daß dies nicht mehr rückgängig zu machen war und viele Spitzel des Ministeriums für Staatssicherheit mit ihren unterschiedlichen Aufgaben in unterschiedlichsten Positionen und Stellungen nunmehr gebunden waren.

Bei dem sich abzeichnenden Ende der Haltbarkeit der DDR gab es dabei recht unterschiedliche Ausgangslagen. Wo es um außenwirtschaftliche Belange ging, die unter dem Siegel der Verschwiegenheit abgewickelt wurden, war man sich der Situation schon Jahren vorher klar. Folglich stand in diesen Bereichen an erster Stelle die Eigensicherung der Mitarbeiter, die ohne größeres Aufsehen angegangen werden konnte. Es war für diese also nur eine Frage des Zeitpunktes, wann dies tatsächlich in Angriff genommen werden mußte. Spätestens im Frühherbst (September 1989) werden hier die Würfel gefallen sein, Land zu gewinnen.

Anders dagegen war der Fall des umfangreichen Apparats Informeller Mitarbeiter des MfS einschließlich ihrer Führungsoffiziere. Erst mit dem Abschalten der hauptamtlichen Ebene waren sie praktisch dem ausgeliefert, was dann kam. Im Gegensatz zu Mitarbeitern der HV A, deren Akten noch vernichtet werden konnten (und die dennoch ihrer Enttarnung entgegensehen, weil es eben nicht 100%ig funktionierte), stand den Informellen Mitarbeitern eine ungewisse Zukunft bevor. Abgesehen davon trifft das für alle HV A-Leute ebenso zu. Und sicherlich ist es für manchen auch nachteilig, wenn seine Vergangenheit leider tatsächlich „gelöscht“ ist und der Nachweis zur Entlastung fehlt.

Jedenfalls gab es im Zeitraum des Herbstes 1989 bis zum Jahre 1990 zahlreiche Überschneidungen, weil einerseits operativ gehandelt werden mußte, ohne daß man aber andererseits den weiteren Ablauf der Geschehnisse kennen konnte. D.h. so ist es zu erklären, daß zwar einige IM-Kader in Verwaltungsleitungen, Landtagen etc. zwar aufflogen, andere eben nicht. Es liegt also vieles nicht an der Aktenlage, sondern an den unterschiedlichen Strukturen der Stasigeflechte.

In diesen Zeitraum fällt auch die Entscheidung, die B-Strukturen in die Spur zu schicken. Hierzu bedurfte es im Frühherbst eines Beschlusses auf höchsten Ebenen der SED, d.h. im Bereich Sicherheit der SED in Übereinstimmung mit den entsprechend zuständigen Abteilungen des MfS, insbesondere zur Mobilmachung „Innere Sicherheit“.

Der Vorteil der B-Strukturen war, daß diese nicht wie IMs gehalten wurden und sozusagen als Praxiskader verstreut über alle Parteien (d.h. CDU, LDPD, NDPD, DBD) und Massenorganisationen für die SED in Bereitschaft stehen mußten. So bekamen sogar einige zwar im Herbst 1989 ihre Stasi-Akte ausgereicht, aber ihre Registratur, Einschätzungen etc. pp. sorgen sicherlich dafür, daß für den Fall des Falles ihre Karriere früher oder später auffliegt.

Ein beachtenswerter Fall war die Drohung des Abgeordneten der PDS, Klaus Bartl, im Sächsischen Landtag, der ein Papier zur Einbeziehung der DDR-CDU in den Verteidigungszustand offenlegen wollte. Dies erfolgte nicht und wurde u.a. mit geschwärzten Namenslisten zu den Akten gelegt. Das bedeutet aber, daß es über unbezeichnete Kader der im Sächsischen Landtag vertretenen Parteien hinweg ein stilles Einvernehmen gibt, daß die jeweils eigenen Spitzel weiterhin in einem demokratischen Rechtsstaat in Machtstellungen konspirieren können. Damit wird verständlich, daß derartige Kader in den Parteien sich wohl weniger um die Sorgen und Nöte der Bürger kümmern können, weil sie mit entsprechenden Aufträgen und der Angst ihrer eigenen Enttarnung beschäftigt sind.

Es war also im Herbst 1989 wirklich alles im Aufgebot, was die Situation hätte „retten sollen“. Das zog natürlich zwangsläufig Überschneidungen nach sich, da sich die Kader teilweise tatsächlich vorher nicht kannten. Und im Bedarfsfall wurde sogar delegiert, weil der ahnungslose Bürger sicherlich nicht nachprüfen konnte, wenn plötzlich wie „Kai aus der Kiste“ ein redegewandter „toller Hecht“ aus dem Bezirk Neubrandenburg plötzlich im Thüringer Raum auftrat oder es umgekehrt Leute aus anderen Regionen nach Berlin zog.

Aus diesem Grunde konnte man es verschmerzen, wenn unversehens die „Revolutionäre“ aus DDR-Alt-Parteien, „Demokratischem Aufbruch“, SDP und wie sie alle hießen, so schnell aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwanden wie sie gekommen waren. Jeder wird da sicherlich seine eigenen Erinnerungen und Erfahrungen haben.

Weitere Kader, die später ins Rennen geschickt wurden, konnten nur an den Start gehen, wenn man die Akten vernichtet hatte bzw. zu wissen glaubte, daß keine mehr auftauchen. Oder neue Kader konnten so weit als „neue Seilschaften“ eingebunden werden, daß sie auch ohne belastendes Vorleben von 1989 im Sinne der Spitzel agierten. Auch dafür wird es sicherlich Richtlinien und Szenarien des Ministeriums für Staatssicherheit gegeben haben, in welcher Weise nicht in geheimdienstlich einbezogene Personen für bestimmte Zwecke eingespannt werden.

Wer die Entwicklung über manch merkwürdige Geschehnisse der „Nachwende“ begreifen will, kann dies anhand mehrerer Hilfsmittel selbst bewerkstelligen. Der Erklärungsbogen zeigt schon einiges auf:

- Die Wohnungen vor 1989 (Die Wohnknappheit in der DDR führte zur Kontingentierung, auch die Stasi besaß entsprechende, nicht nur für informelle Treffs). Dazu kommen

- Zeitpunkt des „aktiven Eintritts“ in das Wendegeschehen

- Positionierungsbereiche und Aktivitäten

- Dokumente mit Äußerungen des Betreffenden

- anschließende Profilierung bzw. Festsetzung in Parteien, Funktionen, Firmen, Ämtern etc.

- Biographie (u.a. selbst formulierter Lebenslauf vor der Wende, 1989/90 und danach)

Dazu kommt das je nach Stasiausbildung angelernte Verhalten des scheinbar selbstbewußten offensiven Auftretens, das Meiden, Schweigen, gelegentliche Lügen und Zugeben, nur soweit Beweise vorgelegt werden können.

Natürlich sind bestimmte Verhaltensweisen trainierbar. Ein einfaches Beispiel soll dies erklären. Nehmen wir z.B. einmal die Frage: „Hast Du schon Deine Akten eingesehen?“ Mit der Zeit stellte sich heraus, daß Bürger, die vorwiegend sich nichts vorzuwerfen hatten bzw. etwas über ihre persönliche Benachteiligung wissen wollten bzw. direkt Opfer waren, diese Beantragungsmöglichkeit wahrnahmen. Damit wurde diese Frage unbewußt für viele eine Zugehörigkeits- bzw. Testfrage. Das bedeutet nach diesem Erfahrungswert, daß die Antworten derer, die diesen Umstand ausgewertet haben, sicherlich ihr Antwortverhalten ändern werden, um nicht aufzufallen. Damit können sie allerdings ihr bisheriges Verhalten nicht mehr rückgängig machen. Das bedeutet, vieles läßt sich damit nachträglich nachweisen.

Es gibt somit eine ganze Anzahl von Möglichkeiten und Rastern, bislang nicht aufgedeckte Spitzel zu enttarnen.

Warum dies gemacht werden muß und wie der strukturelle Neuaufbau angelegt wurde, sollen die folgenden Punkte belegen.