Paulinerkirche
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Paulinerkirche
Urkunde 1544
Chronik
Geschichte
vor 1836
1836 - 1899
1899 - 1968
1968 - 20xx
20xx

1836 - 1899 - Geutebrück

Fotomontage

alt neu

historisches Foto: Stadtgeschichtliches Museum Leipzig

Paulinerkirche innen

historisches Foto: Stadtgeschichtliches Museum Leipzig

Hauptchor vor Rossbach um 1880

Nordwand (Fotomontage) Ostwand Südwand (Fotomontage)

Nordchor

Südwand (Fotomontage) - rechts ehemaliger Treppenaufgang

historisches Fotos: Stadtgeschichtliches Museum Leipzig

Planzeichnungen um 1875

Planzeichnungen um 1875

mit freundlicher Genehmigung Landesamt für Denkmalpflege Sachsen

in Vorbereitung

Wir geben für Sie analog zum "Tag des offenen Denkmals" die Baustelle frei, damit Sie den Arbeitstand sehen und nachvollziehen können, wie ein derat komplexes Gebilde entsteht.

Der Download benötigt je nach Datenleitung bis zu einigen Minuten, da ein Teil des Inventars geladen werden muss. (empfohlene Rechnerleistung >2GHz, 512MB Arbeitsspeicher).

Paulinerkirche

Paulineraltar um 1880

Paulineraltar um 1880
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GEHIRN UND SEELE.

REDE,

GEHALTEN AM 31. OCTOBER 1894 IN DER UNIVERSITÄTSKIRCHE ZU LEIPZIG

VON

DR. PAUL FLECHSIG,

o. Ö. PROFESSOR DER PSYCHIATRIE AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG.

LEIPZIG,

VERLAG VON VEIT & COMP.

1896.



Hochansehnliche Versammlung!

Der Gebrauch unserer Universität verpflichtet den Rektor, das ihm durch ehrendes Vertrauen der Herren Kollegen übertragene Amt mit einem Vortrag aus seinem besonderen Lehrgebiet anzutreten, und so folge ich nur der Sitte, wenn ich in diesen altehrwürdigen Räumen Ihre Aufmerksamkeit auf eines der Grundprobleme meines Faches zu lenken suche, auf die Frage nach der Bedeutung des Gehirns für die psychischen Erscheinungen.

So lange es ein wissenschaftliches, über die unmittelbaren praktischen Bedürfnisse hinausstrebendes Denken in der Medizin gibt, mühen sich hervorragende Ärzte aller Kulturvölker die Stätte zu schauen, wo die fühlende Seele kämpft und der denkende Geist das Weltbild gestaltet. In allen Zeiten wissenschaftlichen Aufschwungs wird das Problem mit frischer Kraft in Angriff genommen, und noch vor kurzem stand es im Vordergrund der klinischen Forschung, bis es durch das echte Kind unserer Zeit, die für das körperliche Wohl so überaus wichtige Bakteriologie, zur Seite gedrängt wurde.

Wie die Medizin ist auch die Philosophie seit Jahrtausenden bestrebt, die Beziehungen zwischen Geist und Körper zu erkennen; aber weit entfernt sich gegenseitig zu fördern, beachten sich Ärzte und Philosophen oft grundsätzlich überhaupt nicht oder verneinen wechselseitig die Haltbarkeit der gewonnenen Überzeugungen.

Wenn wir von der hohen Warte fortgeschrittener Erkenntnis aus die Wege überblicken, welche beide Wissenschaften zurückgelegt haben, so können wir kaum zu einem anderen Urteil gelangen, als dass die Medizin zu allen Zeiten in der Haptsache dem heute erreichten Ziel näher kam, nicht sowohl weil schärferes Denken den Ärzten zu eigen – wer wollte dies einem Aristoteles, einem Cartesius gegenüber behaupten? –, sondern weil ausschließlich das besondere Beobachtungsobjekt des Arztes, das menschliche Individuum im gesunden und kranken Zustand, im Leben und im Tod, wirklich naturgemäße Anschauungen über die "Seele" vermittelt.

Die Ärzte werden sich schon deshalb in ihren Überzeugungen nicht beirren lassen dürfen, wenn auch gegenwärtig zahlreiche philosophische Psychologen die innere Begründung, den logischen Aufbau der medizinischen Hirn- und Seelenlehre zweifelnd bemängeln, wenn der Dialektiker von heute mitleidig herabblickt auf den Forscher, welcher der "Seele" einen besonderen Sitz im Körper zuzuweisen trachtet. In der Tat kann dieses Bestreben nur demjenigen ungereimt erscheinen, welcher hinter jenem Begriff etwas wesentlich Anderes sucht, als die Gesammtheit der in einem individuellen Bewußtsein gegebenen inneren Erlebnisse. Derartigen metaphysischen Anwandlungen steht aber die moderne Medizin aus guten Gründen völlig fern; sie zieht in den Kreis ihrer Betrachtung ausschließlich die der Beobachtung wirklich zugänglichen Seelenerscheinungen und ihre materiellen Bedingungen – die Spekulation über immanente Beziehungen des Einzelbewußtseins zu einer Weltseele, einem geistigen All-Leben u. dergl. m. überläßt sie gern und neidlos der Philosophie.

Ausgehend von der Tatsache, dass Bewußtsein nur bei Lebenden sich äußert und dass die einzige Bewußtseinsform, welche wir aus der eigenen Erfahrung wirklich kennen, das menschliche Fühlen und Vorstellen, sich ändert mit wechselnden Zuständen des Körpers, erklären wir die Seele für eine Funktion des Körpers, die Seelenerscheinungen für Lebenserscheinungen, für den Ausdruck von Lebensvorgängen, welche sich von anderen Vorgängen dieser Art (besonders im Nervensystem) zunächst dadurch sondern, dass sie eben mit Bewußtsein einhergehen. Die Medizin in ihren maßgebenden Vertretern faßt also das Bewußtsein als Begleiterscheinung biophysischer Vorgänge auf, keineswegs aber hiermit ohne Weiteres als eine Resultierende derselben im mechanischen Sinne.

Dass von allen Körperteilen das Gehirn die nächsten Beziehungen zu den psychischen Erscheinungen hat, wurde wahrscheinlich schon von der Schule des Hippokrates gelehrt auf Grund der Erfahrung, dass Verletzungen und Erkrankungen des Gehirns am regelmäßigsten die Seele beeinträchtigen. Seitdem haben Ärzte und Physiologen im Ganzen und Großen unentwegt an der Überzeugung festgehalten, dass die Erforschung des Gehirns den Schlüssel zu einer wissenschaftlichen Seelenlehre erbringen werde, und die heutige medizinische Psychologie will in der Tat nichts anderes sein, als ein Abschnitt der Lehre von den Hirnfunktionen. Welche Hirnteile sind in Tätigkeit, wenn wir denken oder fühlen; welcherlei chemische und physikalische Vorgänge sind hierbei beteiligt? Das sind die Fragen, welche der Arzt sich vorlegt.

Das bisher Erreichte ist ja nun freilich nach keiner Richtung hin abschließend und fast verschwindend im Verhältnis zu der Summe der überhaupt zu lösenden Probleme. Unser gesichertes Wissen beschränkt sich im Wesentlichen auf die Gestaltungsverhältnisse, die Form der Gewebs-Elemente, an welche die geistigen Erscheinungen geknüpft sind, ihre gegenseitige Verbindung, ihre Lokalisation im Gehirn. Ein Zurückführen auf die zu Grunde liegenden Substanzen und Kräfte ist noch nicht möglich; wir wissen nur, dass die im Gehirn vorhandenen chemischen Elemente in Betracht kommen; wir vermuten, dass diese Elemente sich im lebenden Gehirn zu den kompliziertesten Körpern unseres Planeten verbinden; aber wir kennen vorläufig nur Zersetzungsprodukte der psychischen Substanz; und somit liegen selbst die vorstellbaren Grenzen des Naturerkennens auf diesem Gebiet noch in nebelhafter Ferne.

Die moderne Hirnlehre stellt den Satz auf, dass nicht alle Teile des Gehirns von gleicher Bedeutung für das seelische Leben sind. Die für das bloße Auge unterscheidbaren Abschnitte lassen sich der Übersicht halber in zwei Hauptgebiete gruppieren, welche man als höhere und als niedere Hirnteile einander gegenüberstellen kann.

Die niederen Hirnteile schieben sich zwischen die windungsbedeckten Großhirnlappen und das Rückenmark ein und umfassen das verlängerte Mark nebst Anhängen, darunter Kleinhirn und Vierhügel und wenigstens einen Teil der Großhirnganglien.

Von allen diesen Gebieten ist nach der Meinung zahlreicher neuerer Forscher nur die graue Rindensubstanz der Großhirnlappen, die Großhirnrinde fähig, Bewußtsein zu vermitteln. Dieser Satz ist indessen keineswegs endgiltig erwiesen; laut und eindringlich spricht die pathologische Erfahrung nur dafür, dass die Vorstellungstätigkeit, das Vorstellen der Außenwelt und des Körpers – nicht aber alles elementare Empfinden und alles "Fühlen" – an die Großhirnhalbkugeln gebunden ist, und dass hier verschiedenen Qualitäten von Vorstellungen, wie Gesichts-, Gehörsvorstellungen u. a. m. räumlich getrennte Gebiete entsprechen.

In dieser "Lokalisationstheorie" erblickt man hauptsächlich von nicht-medizinischer Seite eine Rückkehr zu der im Anfang dieses Jahrhunderts vielgerühmten und vielgeschmähten Lehre, mit welcher der Name Franz Josef Gall’s untrennbar verbunden ist, zur Phrenologie. Aber man irrt, wenn man die neuere Hirnphysiologie durch die Bezeichnung als "moderne" Phrenologie dem Fluch der Lächerlichkeit preiszugeben meint; man erniedrigt sie hierdurch nicht, sondern man umkleidet nur den Namen Gall’s mit einem neuen Glorienschein. Wir lehnen keineswegs alle Beziehungen zu Gall ab; die neuen Anschauungen über die Hirnfunktionen haben mit der alten Phrenologie manches gemeinsam: denn auch die letztere fußt zum Teil auf tatsächlichen Beobachtungen. Aber Gall ist nicht der Vater der modernen Hirnphysiologie; er ist nur ein Vorläufer – von zweifellos nicht gewöhnlicher Veranlagung; nur darf man, um seine wirkliche Bedeutung zu erfassen, den Zustand der Hirnlehre unmittelbar vor seinem Auftreten nicht außer Acht lassen.

Noch herrschte damals in weiten Kreisen die Cartesianische Lehre vom Seelensitz. Der berühmte und noch jetzt mit Recht geschätzte Anatom Sömmering hatte soeben, vor kaum hundert Jahren, die Konstructionen Descartes’s der wissenschaftlichen Welt durch eine originelle Fassung annehmbar zu machen versucht, und kein geringerer als Kant hatte diesem sonderbaren Unternehmen die Ehre einer, wenn schon ironisch angehauchten Kritik zu Teil werden lassen. Alle Sinnes- und Bewegungsnerven, lehrte Sömmering (gleich Cartesius), enden oder entspringen in der Wand der Höhlen, welche im Innern des Gehirns gelegen sind; und kein anderes materielles Band verknüpft alle diese räumlich gesonderten Apparate zu einer Einheit, als der wässerige Inhalt der Höhlen, das Hirnwasser, welches allein der Sitz der Seele sein kann.

Demgegenüber erscheint die Lehre Gall’s, dass die Hirnwindungen das wichtigste Substrat der Seelentätigkeit darstellen, als ein unvergleichlicher Fortschritt. Ausschließlich in dieser Grundanschauung sowie in dem Satz, dass die einzelnen Windungen des Großhirns nicht alle geistig gleichwertig sind, nähert sich Gall der modernen Lokalisationstheorie. Hingegen muß diese fast jede Gemeinschaft mit seinen Ansichten über die einzelnen Seelenvermögen und ihre siebenundzwanzig Hirnorgane ablehnen. Hiermit fällt auch die Schädellehre in der besonderen Form, welche Gall ihr gegeben – nicht aber jede Möglichkeit, eine exaktere Gestalt für dieselbe zu finden.

Gemeinhin gilt der Physiolog Flourens (1842) für den wissenschaftlichen Überwinder der Phrenologie. Man vermutet, dass er sich gleich Sömmering von vornherein die Seele als ein einheitliches Wesen vorstellte und bei der Deutung seiner Experimente am Tier von dieser Anschauung maßgebend beeinflußt worden ist. Durch Verlust des Großhirns, lehrt er, wird das Tier alles dessen beraubt, was man als Wahrnehmung und Willen bezeichnet. An diesen Gesamtleistungen hat aber jedes Stück des Grosshirns einen durchweg gleichen Anteil, weshalb sich mit Fortnahme jedes beliebigen Massenteiles alle Seelenfunktionen: die Gesichts-, die Gehörsvorstellungen und alles andere in entsprechendem prozentualen Verhältniss vermindern.

Flourens’ Vorstellungen haben fast ein Menschenalter hindurch die Physiologie beherrscht, sich aber doch schließlich teils als irrtümlich, teils als unvollständig erwiesen. Die Pathologen haben sie für den Menschen nie ganz widerspruchslos angenommen; war doch bereits vor Flourens die Aufmerksamkeit der Ärzte auf jenes eigentümliche Krankheitsbild gerichtet, welches wir gegenwärtig Aphasie nennen, d. h. auf das Unvermögen, den Gedankeninhalt durch die artikulierte Sprache auszudrücken, ohne dass Lähmungen der Sprachmuskeln oder allgemeine Geistesschwäche zu Grunde liegen. Nachdem schon Gall und sein Schüler Bouillaud erkannt, dass umschriebene Zerstörungen des Großhirns besonders in der Stirngegend derartige Zustände herbeizuführen vermögen, fand der französische Arzt Marc Dax, dass Aphasie im Wesentlichen nur durch Erkrankung der linken Großhirnhälfte entsteht und schließlich konnte 1863 Broca die Sätze aufstellen, dass speziell die dritte Stirnwindung für die artikulierte Sprache wichtig ist und dass bei allen Rechtshändern, d. i. ca. 98 % aller Menschen, nur die linke dritte Stirnwindung auf das Sprechen eingeübt wird, während bei Linkshändern der entsprechende Teil der rechten Hirnhälfte hierfür eintritt.

Wir kennen jetzt sehr zahlreiche Unterarten der Aphasie; die Sprache ist häufig nicht ganz aufgehoben, sondern nur verstümmelt; bald leidet nur die Lautsprache, bald auch die Schrift, bald nur das Wortgedächtnis, bald auch die syntaktische Diction.

Keineswegs ist in allen Fällen nur die dritte Stirnwindung, die sogenannte Broca’sche Stelle beteiligt. Diese wird vornehmlich erkrankt gefunden, wenn Unfäigkeit besteht, dem Bewußtsein als Klangbilder vorschwebende Worte auszusprechen. Andere Formen vor Aphasie beruhen auf Verletzungen des Schläfenteils, noch andere des Scheitelteils; doch ist es unmöglich, an diesen Ort auf alle hierhergehörigen Erfahrungen einzugehen, welche der Fleiß der Ärzte gesammelt hat. Dieselben beweisen für sich schon, dass keineswegs alle Regionen des Gehirns geistig gleichwertig sind, und das nämliche erhellt in überzeugender Weise aus einer zweiten Reihe pathologischer Erfahrungen, welche auf Beziehungen einzelner Bezirke der Hirnoberfläche zu Sinneseindrücken und zu willkürlichen Bewegungen hinweisen. Es kann gegenwärtig als sicher betrachtet werden, dass in der Hinterhauptsgegend des Großhirns ein Gebiet liegt, dessen Zerstörung die Gesichtsempfindungen gänzlich aufhebt. Wir "sehen" mit dem Hinterhauptsteil des Großhirns. – In gleicher Weise läßt sich klinisch nachweisen, dass das Gehör an den Schläfenteil gebunden ist, der Geruch an die untere Großhirnfläche, der Tastsinn an die obere Stirn- und vordere Scheitelgegend.

Bei Erkrankung dieser Sinnesregionen treten aber auch vielfach Bewegungsstörungen auf, z. B. bei Verletzung der Rindenzone des Tastsinnes in den Körperteilen, welche mit einem besonders feinen Tastsinn ausgestattet sind, insbesondere Vorderarm und Hand, bei Verletzungen nahe der Sehsphäre Abweichungen der Augenstellung, diese aber nur vorübergehend. Und so gehören denn auch Anomalien der zur schärferen Auffassung und Unterscheidung von Sinneseindrücken dienenden Bewegungen zu den Symptomen von Verletzungen der Großhirnwindungen, während die Bewegungen des Gesamtkörpers von Ort zu Ort, zur Abwehr etc. dauernd und vollständig nur durch Erkrankungen aufgehoben werden, welche auch die niederen Hirnteile betreffen oder wenigstens in ihrer Tätigkeit beeinträchtigen.

Wenn es die Pathologie in relativ kurzer Zeit so weit gebracht hat, so vermochte sie dies nicht ausschließlich aus eigener Kraft. Erst nachdem den Ärzten durch das Tierexperiment die Sinne geschärft waren, lenkte sich ihre Aufmerksamkeit auf die nur genannten Regionen des menschlichen Gehirns.

Die Experimentalphysiologie trat in eine neue Epoche, als man begann, die Oberfläche des Tiergehirns mit dem galvanischen Strom abzutasten (Fritsch und Hitzig 1870), und hierbei ergab sich zuerst das wertvolle Resultat, dass nur bei Reizung einzelner Regionen Bewegungen von Körperteilen eintreten dergestalt, dass zwischen gereiztem Ort und bewegtem Körperteil streng gesetzmäßige Beziehungen bestehen. Die Physiologie berührte bei diesen ersten grundlegenden Versuchen noch keineswegs das eigentlich geistige Gebiet; sie entdeckte, wie wir jetzt wissen, tatsächlich nur die Ursprünge einzelner motorischer Leitungen in der Großhirnrinde; indessen führte die Fortsetzung dieser Versuche mehr und mehr in das Reich der Seelenerscheinungen hinein. Durch faradische Reizung brachte Ferrier (1873) von der Hirnoberfläche aus Bewegungen hervor, welche den Charakter des Zweckmäßigen, des Zielbewußten an sich tragen, Bewegungen einzelner Körperteile, wie sie das unversehrte Individuum ausführt, um tastend oder schauend oder horchend oder schnüffelnd die Außenwelt, die Materie nach ihren sinnlichen Attributen zu durchforschen. Weiter erzielte man durch systematisch variirte Abtragung (Munk) einzelner Windungen dieselben Störungen der Sinnestätigkeit beim Tier, welche man später beim Menschen kennen lernte – und wenn die Phantasie einiger Physiologen auch bei der Schilderung der desorganisierten Tierseele sich gelegentlich vom sicheren Boden des tatsächlich Erkennbaren entfernte, so ist der Wert ihrer gesicherten Befunde immerhin noch unschätzbar groß.

Endlich sollte ein die Bahnen von Flourens wandelnder Physiolog, dem die Hirnlehre schon von früher her zahlreiche klare Anschauungen verdankt, sie mit einem neuen kostbaren Geschenk bereichern. Indem es Goltz gelang, einen des Großhirns beraubten Hund am Leben zu erhalten, vermochte er genauer als Flourens festzustellen, welcher Leistungen hier die niederen Hirnteile noch fähig sind, wenn ihnen die Führung des Großhirns fehlt. Goltz hat klar bewiesen, dass auch das großhirnlose Säugethier keineswegs aller seelischen Regungen völlig bar ist. Obwohl alles dessen beraubt, was auf Gedächtnis und Überlegung hinweist, obwohl unfähig mit Hilfe der Sinne die zur Befriedigung seiner körperlichen Bedürfnisse notwendigen äußeren Objecte selbst aufzufinden, ist das Tier nicht eine absolut willenlose Maschine im Sinne von Flourens. Es vermag noch Laufbewegungen auszuführen und sich aufrecht zu erhalten. Durch äußere Reize, Drücken, grelles Licht, erschütternde Geräusche wird es in Bewegung gesetzt unter Äußerungen, aus welchen wir auf Unlust, Unbehagen zu schließen gewöhnt sind. Es gerät in Wut, beißt und heult, wenn es vom sicheren Erdboden in die Luft gehoben wird, und – was noch weit bedeutsamer erscheint – Entbehrung der Nahrung, also ein Zustand, welchen wir als Hunger fühlen, setzt den ganzen Körper in lebhaftere Bewegung. Nach genügender Nahrungsaufnahme tritt Ruhe ein, und eine Art Befriedigung malt sich im Gebahren des großhirnlosen Wesens. Die körperlichen Bedürfnisse wirken also auch bei völligem Großhirnmangel noch treibend auf den Gesamtkörper und setzen überdies alle die Einzelapparate in Bewegung, welche der unmittelbaren Befriedigung der körperlichen Triebe dienen. Sind diese aber gestillt, so erlöscht die Unruhe und ein ruhiger anscheinend traumloser Schlaf umfängt den Körper, bis intensivere äußere Reize oder von innenher Nahrungsmangel u. dergl. das Bewußtsein von neuem anfachen, oder wenigstens entsprechende Äußerungen auslösen.

Der weittragende Wert dieser Versuche liegt nicht in dem Aufschluß, welchen sie uns über den Zustand des Bewußtseins nach Verlust des Großhirns geben; hierüber wissen wir nichts! Aber sie zeigen uns deutlich die Macht und die Selbständigkeit der körperlichen Triebe, und sie liefern uns die ersten Elemente für eine exakte Analyse der tierischen Handlungen. Sie lehren, dass ein großer Teil dieser Handlungen ausschließlich durch körperliche Einflüsse ausgelöst wird und mit dem "Geist" absolut nichts zu schaffen hat.

Dass für den Menschen ganz ähnliche Verhältnisse vorauszusetzen sind, lehren mannigfaltige Beobachtungen. Zunächst am neugeborenen Kind! Indem dasselbe besonders bei zu früher Geburt mit einem fast vollständig unreifen Großhirn zur Welt kommt, mit einem Großhirn, welches des Nervenmarkes fast vollständig entbehrt und so auch chemisch sich von dem des Erwachsenen ganz wesentlich unterscheidet, gleicht der Mensch im Beginn seines Erdenwallens einem großhirnlosen Wesen – und doch sind die Triebe schon mit dem ersten Atemzug in ihm mächtig, und schreiend verlangt der Körper nach Befriedigung seiner Bedürfnisse, nichts anderes kennend als diese einzige Aufgabe, freilich auch die allerwichtigste für die Ermöglichung des Lebens überhaupt. Sind die Triebe befriedigt, wird der Körper nicht von Unlust weckenden äußeren Reizen getroffen, so schwinden auch die Zeichen von Bewußtsein regelmäßig. Die absolute Herrschaft der niederen Triebe zieht sich weit in das Leben hinein; lange stehen die Sinnesorgane fast ausschließlich im Solde derselben, nur Gelegenheit für ihre Befriedigung erspähend – und zahlreiche Individuen bringen es überhaupt nicht viel weiter.

In Bezug auf den erwachsenen Menschen spricht die pathologische Erfahrung für die Gültigkeit der Goltz’schen Beobachtungen am Tier. Wir kennen zahlreiche Zustände, wo das Bewußtsein der Außenwelt und der eigenen Person vollständig erloschen scheint und trotzdem der Körper gemeinhin dem Ausdruck lebhafter Gefühle dienende Bewegungen vollführt, ja wo es sogar zu geregelten Ortsbewegungen des Gesamtkörpers und zu gemeingefährlichen Handlungen kommt, ohne dass irgend welche Teilnahme des vorstellenden Bewußtseins nachweisbar ist.

Doch um tiefer in diese bis auf den Grund des Charakters führenden Erscheinungen einzudringen, ist es notwendig, zunächst einen Blick zu werfen auf eine weitere wichtige Gruppe von Tatsachen, über welche die moderne Hirnlehre gebietet: auf die neueren Forschungen über den inneren Bau, die innere Gliederung, den inneren Zusammenhang des menschlichen Gehirns. Die Anatomie des Gehirns erscheint dem Laien gewöhnlich als etwas fremdartiges, kaum beachtenswertes; ahnt er doch nicht, dass in ihr der Schlüssel zu jeder naturgemäßen Auffassung der Geistestätigikeit gegeben ist, und dass unsere gesamte Kulturfähigkeit ausschließlich von den Einrichtungen unseres Gehirns abhängt. In der Tat spiegelt sich im Aufbau des Gehirns deutlich und klar erkennbar ein großer Teil seiner Leistungen wieder.

Die Anatomie zeigt deutlich, dass in den niederen Hirnteilen Apparate gegeben sind, welche Gesamtzustände des Körpers von innenher wiederzuspiegeln vermögen. Mit Hilfe der von allen Muskeln, Sehnen, Gelenken, den Bogengängen des Ohrlabyrinths etc. herbeiziehenden Leitungen registriert das Kleinhirn ununterbrochen jede Lageveränderung der beweglichen Körperteile und erzeugt so jederzeit ein erschöpfendes statisch-mechanisches Bild des Ganzen, dass wir uns nicht wundern können, wenn auch ohne Mitwirkung äußerer Sinneswahrnehmungen zweckmäßige Bewegungen des Gesamtkörpers zu Stande kommen. Das verlängerte Mark hängt mit Nerven zusammen, deren spezifische Aufgabe es ist, den Mangel an fester Nahrung, an Wasser, an Sauerstoff, also chemische Veränderungen anzuzeigen bezw. durch lokalisierte Hunger-, Durst- und Angstgefühle zum Bewußtsein zu bringen. – Für die Gestaltung der geistigen Vorgänge maßgebend ist aber der Mechanismus des eigentlichen Großhirns. Bis vor wenigen Jahrzehnten fehlte es noch an jeglicher zuverlässigen Methode, um das Organ mit seinen Milliarden von Ganglienzellen und Nervenleitungen auseinander zu legen. Gegenwärtig besitzen wir solche Methoden, und unter allen ragt hervor, was Aufschlüsse über den Gesamtplan anlangt, die Entwicklungsgeschichte, aber nicht die Geschichte der ersten Bildung, der frühesten Formwandlungen, sondern die Geschichte des weit später sich vollziehenden inneren Ausbaues. Alle anderen Methoden der Untersuchung, insbesondere auch die auf gewisse Entartungszustände gegründeten, können nur als Ergänzungen dienen für die tatsächlich eine natürliche Selbstzergliederung des Gehirns benutzende entwicklungsgeschichtliche Forschung. Scharf markieren sich bei dem streng gesetzmäßig und systematisch ablaufenden Prozeß der Markscheidenbildung die großen Grundlinien, indem ein Glied des Mechanismus nach dem andern reift und in Tätigkeit tritt, gleichzeitig mit den im Hirnbau selbst verwirklichten Ideen das Werden und Wachsen des individuellen Bewußtseins klar wiedergebend.

Während nun die niederen Hirnteile, welche die ersten Angriffspunkte für die Triebe darstellen, schon bei der Geburt ihre Entwickelung abgeschlossen haben, sind im Großhirn auch bei dem völlig reifen Kinde nur einige wenige Nervenleitungen fertig gestellt; und diese Leitungen verknüpfen ausschließlich empfindliche Teile des Körper-Innern, insbesondere die Muskeln, sowie einige Sinneswerkzeuge mit dem Zentralherd des Bewußtseins, der grauen Rinde des Großhirns. Eine Sinnesleitung nach der andern, den für die zweckmäßige Auswahl der Nahrung besonders wichtigen Geruchsinn an der Spitze, der Gehörsinn zuletzt, dringt von der Körperoberfläche her gegen die Rinde vor; und hierbei zeigt sich nun deutlich, dass alle die Regionen der Hirnoberfläche, welche die Pathologie mit den Sinnesempfindungen in Beziehung bringt, nichts anderes sind, als die Endpunkte der Sinnesleitungen in der Großhirnrinde, die inneren Endflächen der Sinnesnerven. Die Zerstörung dieser inneren Sinnesorgane ist es, welche "Rinden-Blindheit", "Rinden-Taubheit" u. s. w. zur Folge hat.

Nachdem die Sinnesleitungen des Kindes bis zu diesen Rindenorganen fertiggestellt sind, beginnen von da aus neue Bahnen sich in umgekehrter Richtung zu entwickeln. Die einen dringen gegen die niederen Hirnregionen, zum Teil auch direkt gegen das Rückenmark hin vor, gegen die Ursprünge der Bewegungsnerven – und so bewaffnet sich eine innere Sinnesfläche nach der anderen mit Leitungen, welche feinabstufbare Willensimpulse auf die motorischen Apparate, insbesondere auf die Muskeln der peripheren Sinneswerkzeuge übertragen, allen voran der Tastsinn, welchem sich beim Menschen Hunderttausende wohl isolierter Leitungen zur Verfügung stellen, um die tastenden Hautflächen zu bewegen. Schon diese starke Entwickelung der inneren Organe des Betastens, des Begreifens beeinflußt sichtlich die Gesamtform des menschlichen Gehirns wie nicht minder seine geistige Leistungsfähigkeit.

Die inneren Endflächen der äußeren Sinne in der Hirnrinde treten aber auch in Beziehung zu den verschiedenen Angriffspunkten der körperlichen Triebe, durch Nervenleitungen, welche höchst wahrscheinlich eine wechselseitige Beeinflussung der Triebe und der äußeren Sinneseindrücke ermöglichen. Sind in diese Leitungen, wie ich annehmen möchte, die Großhirnganglien eingeschaltet, so nimmt hier das dem Gehörsinn zugehörige Rindenzentrum eine beachtenswerte Sonderstellung ein, indem es nur spärliche Verbindungen mit den Großhirnganglien erkennen läßt – und vielleicht beruht hierauf der idealere Charakter der Gehörseindrücke, welcher die Tonkunst von vornherein zum natürlichen Vermittler der geistigen Gefühle bestimmt. Im Gegensatz hierzu besitzt das Rindenfeld des mit den niederen Trieben so eng verbundenen Geruchsinns die ausgedehntesten Beziehungen zu den Großhirnganglien.

Das dem Tastsinn zugeschriebene Gebiet in der oberen Stirn- und vorderen Scheitelgegend erweist sich als Teil eines großen zusammenhängenden Rindenfeldes, in welchem der Körper zum zweiten Mal sich in seiner ganzen Ausdehnung wiederspiegelt, und von dem aus auch alle zur Befriedigung der körperlichen Triebe dienenden Bewegungen (Schlucken, Kauen, Atmen, sowie auch die Locomotion, das Ergreifen äußerer Objekte) psychisch-reflektorisch und willkürlich ausgelöst werden können. Indem hier dicht neben den Ursprüngen weitaus der meisten psycho-motorischen Bahnen die Endstationen sämtlicher Leitungen liegen, welche neben den objektivierten Tastempfindungen die Körpergefühle, die Lageempfindungen der einzelnen Körperteile etc. vermitteln, haben wir einen Bezirk vor uns, an welchen die wesentlichste Grundlage des Selbstbewußtseins, das Bewußtwerden des Körpers, geknüpft ist. Es dürfte demgemäß zweckmäßig sein, dieser großen, alle übrigen Sinneszentren an Ausdehnung weit übertreffenden Rindenzone die Bezeichnung "Körperfühlsphäre" zu erteilen, wodurch dieselbe gegenüber den lediglich äußere Eindrücke aufnehmenden Sinneszentren wie die Hörsphäre scharf charakterisiert wird.

So ist der Körper doppelt im Gehirn vertreten, einmal in den niederen Hirnteilen, den automatisch-reflektorisch tätigen ersten Angriffspunkten der körperlichen Triebe, einmal in der Großhirnrinde, in der Sphäre der höheren geistigen Vorgänge, hier gleichzeitig als ein mit Hilfe der äußeren Sinne vorstellbares Objekt und als ein mittelst innerer Eindrücke, insbesondere der Sehnen-, Muskel- und Eingeweidenerven unmittelbar sich fühlendes Subjekt.

Sucht man sich den Gesamtumfang der psychischen Funktionen vorzustellen, welche ausschließlich an die inneren Sinnesflächen geknüpft sind, so darf man nicht außer Acht lassen, dass beim geistesgesunden Erwachsenen sich alle Sinneseindrücke sofort mit zahlreichen Erinnerungen verbinden. Erst durch Verknüpfung von Eindrücken mit Erinnerungen entstehen Vorstellungen; erst hieraus resultiert die richtige Deutung unserer Sinneseindrücke. Reine Sinneseindrücke ohne Erinnerungen kommen beim geistesgesunden Erwachsenen kaum vor, während sie bei krankhaften Störungen des Bewußtseins nicht selten zu sein scheinen. Da beim Menschen, welcher allein hier maßgebend sein kann, Erinnerungen nicht regelmäßig in größerer Zahl schwinden, wenn ausschließlich Sinneszentren erkranken, – können wir diesen letzteren nicht die Fähigkeit zuschreiben, für sich allein neben den Sinneseindrücken auch sämtliche Erinnerungsbilder zu vermitteln; sie haben aber wohl zweifellos in den Vorstellungen, wie wir sie im ausgebildeten Bewußtsein finden, den wesentlichsten Anteil an dem, was sinnlich scharf und deutlich erscheint, d. h. das Gepräge spezifischer Energie an sich trägt, und mit Rücksicht hierauf darf man die Sinnesflächen der Großhirnrinde auch als Wahrnehmungszentren bezeichnen.

An diesen Wahrnehmungen ist aber nicht nur bemerkenswert die sinnliche Schärfe, sondern auch das Zusammenfließen mehr oder weniger zahlreicher elementarer Empfindungen zu "einheitlichen" psychischen Gebilden, so dass bereits hier die "verknüpfende Tätigkeit der Seele" hervortritt.

Für die richtige Deutung der Sinneseindrücke, für ihre geistige Verarbeitung kommt zum mindesten in gleichem Maße eine zweite Gruppe von Bezirken der Großhirn-Oberfläche in Betracht, welche wiederum nur durch die Untersuchung des Kindes sich scharf umgrenzen lassen. Nur etwa ein Drittteil der menschlichen Großhirnrinde steht in direkter Verbindung mit den Leitungen, welche Sinneseindrücke zum Bewußtsein bringen und Bewegungsmechanismen, Muskeln anregen: zwei Drittel haben direkt hiermit nichts zu schaffen; sie haben eine andere, eine höhere Bedeutung.

Welcher Art dieselbe ist, läßt schon die mikroskopische Untersuchung bis zu einem gewissen Grade erkennen. Während jedes Sinneszentrum der Hirnrinde einen besonderen charakteristischen Bau besitzt, der bei einzelnen deutlich erinnert an die Nerven-Ausbreitungen je in dem zugeordneten äußeren Sinneswerkzeug, tragen die höheren Zentren – welche ich der Verständlichkeit halber von vornherein als geistige bezeichnen will, als "Denkorgane" gegenüber den "inneren Sinnen" – ein mehr einheitliches Gepräge, einen gleichmäßigen Typus der mikroskopischen Struktur, obwohl sie sich über die verschiedensten Regionen der Hirnoberfläche ausbreiten. Sie bilden einesteils das eigentliche Stirnhirn, den hinter der freien Stirnfläche, unmittelbar über den Augen gelegenen Hirnteil, ferner einen großen Teil der Schläfen- und Hinterhauptslappen, ein mächtiges Gebiet im hinteren Scheitelteil und endlich die tief im Innern des Hirns versteckte Insula Reilii. Also mehrere große wohlgesonderte Bezirke gibt es im menschlichen Gehirn, welche nicht direkt mit Sinneseindrücken von außen her oder aus dem Körperinnern, noch mit Bewegungsimpulsen zu tun haben, deren Tätigkeit somit ganz nach innen gerichtet erscheint.

Aber dieselben bieten noch weitere Besonderheiten, welche von vornherein auf ihre höhere, auf ihre geistige Bedeutung hinweisen. Noch einen Monat nach der Geburt sind die geistigen Zentren unreif, gänzlich bar des Nervenmarkes, während die Sinneszentren schon vorher – ein jedes für sich, völlig unabhängig von den anderen – herangereift sind. Erst wenn der innere Ausbau der Sinneszentren zum Abschluß gelangt ist, beginnt es sich allmählich in den geistigen Zentren zu regen, und nun gewahrt man, wie von den Sinneszentren her sich zahllose Markfasern in die geistigen Gebiete vorschieben und wie innerhalb eines jeden der letzteren Leitungen, die von verschiedenen Sinneszentren ausgehen, mit einander in Verbindung treten, indem sie dicht nebeneinander in der Hirnrinde enden. Die geistigen Zentren sind also Apparate, welche die Tätigkeit mehrerer innerer (und somit auch äußerer) Sinnesorgane zusammenfassen zu höheren Einheiten. Sie sind Zentren der Assoziation von Sinnes-Eindrücken verschiedener Qualität, von Gesichts-, Gehörs-, Tasteindrücken etc.; und sie erscheinen insofern auch als Träger einer "Coagitation", wie die lateinische Sprache prophetisch das Denken bezeichnet hat; sie können also spezieller auch Assoziations- oder Coagitations-Centren heißen.

Diese aus dem anatomischen Bau sich unmittelbar ergebende, sich geradezu aufzwingende Hypothese könnte so lange für unzureichend begründet gelten, als sie nicht die Probe der klinischen Erfahrung bestanden hat; diese aber ergibt tatsächlich zahllose Beweise für ihre Richtigkeit.

Die Erkrankung der Assoziations-Zentren ist es vornehmlich, was geisteskrank macht; sie sind das eigentliche Objekt der Psychiatrie. Sie finden wir verändert bei denjenigen Geisteskrankheiten, deren Natur uns am klarsten ist, weil das Mikroskop Zelle für Zelle, Faser für Faser deutlich die zu Grunde legenden Veränderungen erkennen läßt; und so können wir direkt nachweisen, welche Folgen es für das geistige Leben hat, wenn sie zu mehreren oder zu vielen oder auch sämtlich desorganisiert sind. In ein wirres Durcheinander geraten die Gedanken, neue fremdartige Gebilde erzeugt der Geist, wenn sie krankhaft gereizt werden, und völlig verloren geht die Fähigkeit die Vergangenheit zu nutzen, die Folgen der Handlungen vorauszusehen, wenn sie vernichtet werden. Sie sind die Hauptträger von dem, was wir Erfahrung, Wissen und Erkenntnis, was wir Grundsätze und höhere Gefühle nennen, zum Teil auch der Sprache; und so wird all’ dies Können mit einem Schlag hinweggefegt, wenn z. B. Gifte die geistigen Zentren ihrer Erregbarkeit berauben.

Die Lehre von den "geistigen" Zentren ist noch ein zu junger Erwerb, als dass sich ihre Bedeutung nach allen Richtungen hin bis ins Einzelne schon jetzt klarlegen ließe. Die Gestaltung der Psychologie in der Zukunft wird wesentlich von der Analyse ihrer Tätigkeit abhängen, und erst dann wird sich zeigen, wie viele besondere Seelenorgane der Mensch hat. Eine Psychologie, welche Anspruch auf Exaktheit macht, wird die Tatsache, dass die menschliche Großhirnrinde sich, ähnlich wie die Erdoberfläche aus Kontinenten und Meeren, aus mindestens sieben anatomisch wohlgesonderten Gebieten zusammensetzt, nicht ignorieren dürfen. Das Organ des Geistes zeigt deutlich eine kollegialische Verfassung; und in zwei Senate ordnen sich seine Räte; nur kommen den Mitgliedern dieser Senate nicht, wie in der alten Phrenologie Namen zu, wie Freundschaft, Gutmütigkeit, Witz, Festigkeit und dergl., sondern einesteils solche von Sinnen: Seh-, Hör-, Riech- (und Schmeck-), Tast-, Körperfühl-Sphäre, andernteils handelt es sich um Coagitations- oder Assoziationszentren; diese letzteren aber harren mit Rücksicht auf ihre besonderen Funktionen noch weiterer spezieller Bezeichnungen. Vorläufig müssen wir uns begnügen, sie mit Rücksicht auf ihre Lage zu unterscheiden als frontales oder vorderes, insuläres oder mittleres und parieto-occipito-temporales oder hinteres Assoziationszentrum. Da das letztere aber weitaus das umfangreichste ist, indem der Scheitel-, Hinterhaupts- und Schläfenteil desselben an der Außenfläche des Gehirns breit und ohne scharfe Grenze zusammenfließen, so empfiehlt es sich, diesen gesamten Komplex kurz als hinteres großes Assoiationszentrum zu bezeichnen. Geistig völlig gleichwertig sind diese Zentren keinesfalls. Bringt doch schon ihre verschiedene relative Lage zu den einzelnen Sinneszentren Besonderheiten mit sich, indem das hintere Assoziationszentrum sich einschiebt zwischen Seh-, Hör- und Tast- (Körperfühl-) Sphäre, während das vordere eingeschaltet ist zwischen Körperfühl-Sphäre und Riech- (wahrscheinlich auch Schmeck-) Sphäre, das mittlere zwischen Hör-, Riech- und Körperfühl- (Tast-) Sphäre. Die klinische Beobachtung aber ergibt, dass bei Läsionen des hinteren großen Assoziationszentrums u. a. die Fähigkeit schwindet, gesehene oder getasteste äußere Objekte richtig zu benennen eventuell auch (bei doppelseitigen Störungen) richtig zu deuten und so richtige Gesamtvorstellungen von der umgebenden Außenwelt zu bilden, während die Erscheinungen bei doppelseitiger Erkrankung des vorderen Assoziationszentrums darin übereinkommen, dass die Vorstellung der eigenen Person als eines handlungsfähigen Wesens und die persönliche Anteilnahme an äußeren und inneren Geschehnissen irgendwie verändert werden, ja eventuell gänzlich verloren gehen.

Insofern die Assoziationszentren des Menschen die der höchststehenden Tiere, insbesondere auch der anthropoiden Affen, an Masse und Oberfläche absolut wie relativ ganz erheblich übertreffen, verdankt der Mensch seine geistige Überlegenheit in erster Linie diesen besonderen Gehirnteilen, und unter ihnen wieder in erster Linie seinem hinteren großen Assoziationszentrum, welches ihn befähigt, alle seine Anschauungen mit Worten zu assoziieren und zunächst innerlich in Worte zu kleiden; seine Befähigung aber, diese Worte auszusprechen, beruht auf der viel stärkeren Entwickelung seiner dritten Stirnwindung, also eines Teiles der Körperfühl-Sphäre, welche selbst bei den höchsten Affen auch nicht annähernd so umfangreich gefunden wird. Inwiefern die starke Entwickelung des frontalen Assoziationszentrums an der geistigen Superiorität des Menschen besonderen Anteil hat, wird sich erst überblicken lassen, wenn es gelungen ist, die Gesamtheit der an diesen Hirnteil geknüpften geistigen Vorrichtungen festzustellen; man wird hier u. A. auch an die Fähigkeit zu denken haben, die Aufmerksamkeit nach persönlichen Motiven, d. h. willkürlich zu lenken, welche bei doppelseitiger Erkrankung regelmäßig verloren geht.

Bei den komplizierteren geistigen Leistungen wirken wohl alle geistigen und Sinneszentren zusammen, da sie untereinander durch zahllose Nervenfasern verbunden sind. Der größte Teil des menschlichen Groß-Hirnmarkes besteht tatsächlich aus nichts anderem als aus Millionen wohlisolierter, insgesamt Tausende von Kilometern messender Leitungen, welche die Sinneszentren untereinander, die Sinneszentren mit den geistigen Zentren und diese wieder untereinander verknüpfen; – und nur aus dieser Mechanik resultiert die Einheitlichkeit der Großhirnleistungen.

Da mit Zerstörung insbesondere der "geistigen" Zentren regelmäßig das Gedächtniss in großer Ausdehnung leidet, so haben wir in ihnen zweifellos einen großen Teil der nervösen Elemente zu suchen, an welche die Erinnerungsfähigkeit für Sinneseindrücke gebunden ist – und es würde sich nur fragen, ob und inwiefern wir mit unseren physikalischen und chemischen Hilfsmitteln hier direkt irgend welche Spuren früherer Sinneseindrücke nachweisen können. Dass die Gedächtnisspuren überhaupt materieller Natur sind, geht schon aus der einfachen Tatsache hervor, dass chemische Agentien, wie Alkohol u. a. m. sie vorübergehend oder dauernd verschwinden machen, letzteres ausnahmslos dann, wenn durch das Gift, die Ganglienzellen und Nervenfasern der Rinde in größerer Menge aufgelöst werden.

Wir verlegen die Gedächtnisspuren hauptsächlich in die Ganglienzellen, weil nur diese erfahrungsgemäß fähig sind, Reize aufzuspeichern, sich mit Spannkräften nach Art von Reservestoffen zu laden, aber wir können es einer Zelle nicht ansehen, ob sie wirklich Erinnerungsspuren birgt oder gar welcherlei Qualität dieselben sind, ob eine Zelle etwa Anteil hat an der Vorstellung der Sonne oder eines Akkords.

Wir sind schon deshalb noch unendlich weit von dem Zeitpunkt entfernt, wo die Psychologie die Vorstellungen etwa mit Rücksicht auf die Zahl der gleichzeitig in Tätigkeit tretenden nervösen Elemente wird einteilen können. Wir dürfen vermuten, dass man dann tausend-, hunderttausend-, ja millionenzellige Vorstellungen unterscheiden wird; niemals aber wird man angesichts der anatomischen Verhältnisse in Wirklichkeit einzellige annehmen dürfen.

Indem wir vorläufig auch nicht für eine einzige Vorstellung angeben können, wieviel nervöse Elemente daran beteiligt sind, stehen wir vor einer zweiten Schranke des Naturerkennens, welche es unmöglich macht, die irgend einem geistigen Geschehen parallel gehenden Bewegungen der Hirnmoleküle vollständig in mathematischen Formeln zu beschreiben und überhaupt die Frage nach einem durchgehenden Parallelismus zwischen geistigen und körperlichen Vorgängen exakt zu beantworten.

Die mikroskopische Anatomie, die Elementarphysiologie versagen also schon frühzeitig; sie zeigen ebensowenig, wo Gedächtnisspuren sich befinden, als sie lehren, welche Elemente des Hirns Bewußtsein vermitteln, welche speziell an Vorstellungen, welche an Gefühlen beteiligt sind; und zweifelnd fragen wir, ob wir dieses Ziel auch mittelst vollkommenerer chemischer und physikalischer Untersuchungsmethoden je erreichen werden.

Was wir aber mit Sicherheit wissen, ist, dass die in den Hirnelementen niedergelegten Gedächtnisspuren untereinander mehr oder weniger in festen Beziehungen stehen; das Gedächtnis ist organisch gegliedert schon vermöge der Gliederung seiner physischen Grundlage in unzählige wohlgesonderte Einzelstücke, und die Gedächtnisspuren selbst sind nur Besonderheiten in deren Organisation.

Der allem geordneten Denken zu Grunde liegende Zusammenhang der Erinnerungsbilder beruht in letzter Linie zum guten Teil auf Eigenschaften der Außenwelt, des Weltganzen. Indem die Natur-Vorgänge gesetzmäßig verlaufen, kehren Reihen und Gruppen von Sinneseindrücken häufig in derselben Verbindung wieder, und das oft Zusammentreffende, die Härtung gleicher Eindrücke läßt besonders feste und festgeschlossene Gedächtnisspuren zurück, während durch einen gesetzlosen Zufall zusammengeführte Erscheinungen schon vermöge ihrer seltenen Wiederkehr sich nur lose mit einander verknüpfen. Gleich einem Vermächtnis hat Hermann von Helmholtz in seiner letzten Abhandlung mit der ganzen Vollkommenheit und Einfachheit der schöpferischen Natur die Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass all’ unsere anschauliche Kenntnis der Außenwelt nur aus Sinneseindrücken und unbewußter Arbeit des Gedächtnisses stammt – wohl das eigentliche Endergebnis der immer höher und höher zielenden Überlegungen des vor wenig Wochen dahingeschiedenen wahrhaft geborenen Naturforschers, dessen unersetzlichen Verlust wir mit der gesamten gesitteten Welt auf das Tiefste beklagen.

Wenn ein Geist, welcher die gesetzliche Ordnung im Reiche des Wirklichen so überaus klar erkannt hat, sich bescheidet, in seinen unsterblichen Werken großentheils das Ergebnis solch’ elementarer Vorgänge zu sehen, so werden wir von unserem ärztlichen Erfahrungskreis aus nicht anstehen dürfen, auch die durch bewußtes Zergliedern der Anschauungen gebildeten Begriffe, insbesondere die zu Worten in festen Beziehungen stehenden Vorstellungskomplexe nur mit einer besonderen Organisationsform der Gedächtnisspuren in Zusammenhang zu bringen; werden doch die Begriffe ganz wie die Objektvorstellungen zersprengt, wenn die geistigen Zentren erkranken.

Von besonderem Interesse erscheint nun die Frage nach den physischen Kräften, welche die Gedächtnisspuren wieder zu Vorstellungen, zu Bewußtseinserscheinungen werden lassen. Gemeinhin legt man hier den Sinneseindrücken, den Eindrücken der Außenwelt die größte Bedeutung bei, und tatsächlich wecken diese ja im wachen Zustande ununterbrochen Gedächtnisspuren. Aber man darf hierbei nicht eines anderen wichtigen Faktors vergessen. Lebhaft Phantasie oder Nachdenken erregend wirken äußere Eindrücke besonders dann, wenn sie gewisse Gefühle und hiermit Triebe auslösen. Was reizt, gefällt nicht nur, sondern setzt auch die Vorstellungen in lebhaftere Bewegung. Aber auch direkt von innen heraus wirken Geschlechtstrieb, Hunger, Durst, Angst und viele andere körperliche Gefühle wie mit einem Zauberstab weckend auf die ihnen genehmen, inhaltsverwandten Vorstellungen. Hier tritt uns also ein zweiter unsre Vorstellungen ordnender Faktor entgegen, ein Faktor, auf welchem zweifellos ein ganz wesentlicher, keineswegs nur der schlechteste Teil von Kunst und Poesie beruht, die körperlichen Gefühle und Stimmungen, die eigentlichen Grundkräfte der Phantasie. Geradezu grausenerregend zeigt sich ihre Macht über die Ideenwelt bei Geisteskranken, wenn die Reizbarkeit der geistigen Zentren exzessiv erhöht, wenn die Träger der Gedächtnisspuren abnorm leicht erreglich sind. Ohne Zutun der bewußten Überlegung komponiert hier das krankhaft gesteigerte Angstgefühl Szenerien und Gestalten von erschütterndster Wirkung, von tragischer Gewalt; sowie die Angst sich auf den Gesichtszügen malt und die ganze Körpergestalt plastisch formt, modelliert sie aus allem, was nur im Gedächtnis für ihre Zwecke brauchbares enthalten ist, die abenteuerlichsten Traggebilde, geistige Neuschöpfungen, wie sie nie eines Sterblichen Auge wirklich sah; und Ähnliches bieten ja auch die Träume in körperlichen Schwäche- oder Krankheitszuständen.

Die Sinne erscheinen hier zunächst nur als untergeordnete Gehilfen der körperlichen Triebe, wie Handlanger, welche für die Gefühle im Voraus Ausdrucksmaterial herbeischleppen. Aber von der Sorgfalt ihrer vorbereitenden Arbeit, von ihrem scharfen Erfassen des Wirklichen hängt doch zum guten Teil die künstlerische Vollkommenheit der Phantasiegebilde ab; und die Phantasie arbeitet, um so einheitlicher, je sorgfältiger das sinnliche Material von vornherein mit klaren, scharfen Gefühlsmarken versehen und so nach Gefühlskategorien geordnet wird.

Aber auch bei den großartigsten Bauten der Phantasie handelt es sich zum Teil um einfach mechanische Vorgänge. Sind doch auch hierbei wieder Leitungsbahnen beteiligt, Nervenfasern, welche die Mechanismen zunächst der körperlichen Gefühle mit den Zentralwerkstätten des organisierten Gedächtnisses, den Assoziationszentren, in Verbindungen setzen. Indem auch die Nerven, welche die sinnlichen Triebe im Bewußtsein repräsentieren, bis zur Hirnrinde vordringen und in Sinneszentren eintreten – vermutlich in die Körperfühl-Sphäre – treffen hier Nervenbahnen, welche uns die Schätze und Reize der Außenwelt zeigen zusammen mit jenen, welche die im Körperinneren entstehenden Bedürfnisse in Form von Begierden zum Bewußtsein bringen. Beide ohne Unterschied regen von diesen ihren höchsten Angriffspunkten aus die Tätigkeit einesteils von Bewegungsapparaten, anderenteils der geistigen Zentren an – und vermutlich beruht hierauf das Geheimnis des Augenausdrucks, in welchem sich zahllose Gefühlsnüancen wiederspiegeln können.

Aber die Leitungen zwischen den Zentren der Triebnerven und den geistigen Gebieten der Großhirnrinde sind nicht bloß dazu berufen, die Sinnlichkeit in Vorstellungen zu kleiden, zu idealisieren, nicht nur um ihre Befriedigung zu erleichtern durch Wahrnehmung der hierzu geeigneten Objekte; sondern indem die körperlichen Triebe die Rinde erregen, beginnt auf assoziativem Wege unter Teilnahme der äußeren Sinne auch jener Wechsel, jenes Arbeiten der Vorstellungen, welches uns das Selbstbewußtsein als Kampf der Sinnlichkeit mit der Vernunft wahrnehmen läßt. Neben treibenden Vorstellungen treten solche auf, an welche hemmende Gefühle geknüpft sind – und so erlangt die Auslösung von Erinnerungsbildern durch die körperlichen Triebe auch eine eminent sittliche Bedeutung. Deshalb werden mit Notwendigkeit die Triebe aller idealen Charaktere entkleidet, darum fällt jeder Kampf zwischen den sinnlichen und den an Ideen gebundenen sittlichen Gefühlen hinweg, wenn die Kraft der geistigen Zentren erlahmt, wenn ihr geistiger Inhalt schwindet. Jeder Zügelung bar herrschen dann die Leidenschaften; die niederen Begierden, Zorn, Wut, Angst und alle anderen Gemütsbewegungen treten in den Vordergrund, und behaupten das Feld so lange, bis auch die Mechanismen, an welche sie gebunden sind, funktionsunfähig werden. Schon der gewohnheitsmäßige Alkoholmißbrauch zeigt uns dieses abschreckende Bild des in seinen edelsten Hirnteilen entarteten Menschen, noch mehr aber die tieferen allgemeinen Erkrankungen der geistigen Sphären. Die Beherrschung der Affekte erfordert ein kraftvolles Großhirn – vielleicht in erster Linie Gesundheit des frontalen Assoziationszentrums –, und ohne dieses ist weder ,,die sinnliche Stärke die den Helden macht", noch die Olympische Ruhe des Weisen denkbar, freilich mit dem Unterschied, dass die sinnliche Stärke auch ein kräftiges Triebleben und eine ausdauernde Energie niederer Hirnteile, insbesondere der die Blutverteilung regulierenden vasomotorischen Zentren voraussetzt.

Gesundheit des Grosshirns verbürgt aber Beherrschung der niederen Triebe nicht allein dadurch, dass sie klares Denken, stete Besonnenheit ermöglicht; vielmehr ist hier auch ein rein mechanischer Faktor in Wirksamkeit. Die körperlichen Triebe gehören, soweit sie nicht auf automatischen Erregungen zentraler Ganglienzellen beruhen, ihrem Wesen nach zur Kategorie der reflektorischen Vorgänge, und wie alle anderen Reflexe werden auch sie (insbesondere der Geschlechtstrieb) vom Großhirn stetig gedämpft, darniedergehalten. Mit zunehmender Großhirnschwäche läßt auch diese mechanische Hemmung nach, und der körperliche Reiz gewinnt nun schon deshalb eine ausgedehntere Herrschaft über die geistigen Zentren.

Aber man würde gewaltig irren, wenn man glaubte, dass Schwäche des Großhirns sich immer nur in augenfälliger intellektueller Störung, in Geistesschwäche, Verworrenheit, delirierendem Wahnsinn u. dergl. kund gibt. Sie kann sich auch unter weniger auffälligen Masken verbergen, und zunächst möchte ich hier des aktuellen Interesses halber jener Fälle gedenken, "welche die Psychiatrie als moralisches Irresein, Moral insanity, bezeichnet.

Als besonders charakteristisch tritt hier neben mehr oder weniger vollständigem Mangel der sozialen Instinkte, der Zuneigung und des Mitleids, wenigstens zeitweise eine Steigerung des Trieblebens in schrecklichster Form hervor; ganz im Sinne einer Großhirnschwäche reagieren derartige Individuen gelegentlich auf alle körperlichen Anreize, auf mäßige Unlust, leichten Hunger; sexuelle Erregung u. dgl. m. im Sinne einer übermaximalen Reizung, und die Erregung eines Triebes setzt gelegentlich gleichzeitig mehrere in Bewegung, so dass die Befriedigungsweise schon dadurch unnatürlich, pervers erscheinen muß. Glücklicherweise sind diese ausschließlich durch Vergiftung im Keimzustand oder Störung des Gehirnwachstums entstehenden, wahrhaft unmenschlichen Naturen keineswegs häufig.

Aber auch ohne merklich intellektuell oder moralisch schwach zu sein, ja selbst bei glänzender geistiger Veranlagung zeigen viele Individuen eine Hirnschwäche, in Form einer Ungleichmäßigkeit, einer mangelnden Stetigkeit der Großhirnleistungen. Hier vermag der erfahrene Arzt nicht gar selten zu erkennen, dass die Ernährung des Gehirns zeitweise unvollkommen wird, weil die Blutzirkulation versagt; und sobald diese unter ein gewisses Maß herabsinkt, trübt sich, ja schwindet das Bewußtsein, welches ohne Zufuhr sauerstoffhaltigen Blutes auch nicht sekundenlang bestehen kann. Andere dieser Unglücklichen sind so konstruiert, dass eine kräftige Triebregung, ja schon die leichte Reizung eines überempfindlichen Nerven sofort eine Hemmung der Energie weiter Bezirke der Großhirnrinde und hiermit Abschwächung der Besonnenheit, der Selbstbeherrschung zur Folge hat; und je nach Art und Dauer des Reizes kommt es hier zu einer kürzeren oder längeren Periode zügellosen Gebahrens, welches mit dem Grundcharakter der Persönlichkeit in scheinbar unversöhnlichem Widerspruch steht – oder zu einzelnen impulsiven Gewaltakten, welche tatsächlich nichts anderes sind als Reflex-Vorgänge innerhalb der Körperfühl-Sphäre, bei welchen das Selbstbewußtsein nur als ohnmächtiger passiver Zuschauer zugegen ist.

Für derartige Naturen, welche nur zu häufig mit dem Strafgesetz in Conflikt kommen, gewinnt der Richter gemeinhin nur schwer ein Verständnis. Sind sie doch rein psychologisch nicht zu begreifen – bedarf es hierzu doch scharfer ärztlicher Begriffe, klarer Vorstellungen über die Vorgänge der Hemmung und Reizung im Nervensystem – also einer gründlichen Kenntnis der Statik und Mechanik des Seelenorgans.

Derartige Fälle sind es, welche jene auf den ersten Blick so widersinnigen Krankheitsformen repräsentieren, für welche die Psychiatrie seit Pinel die Bezeichnung Manie sans délire, Folie raisonannte, Monomanie instinktive, Handlungsirresein und andere mehr erfunden hat, das geisteskranke Gebahren ohne Irresein.

Sie sind es, welche uns in besonders greller Weise zeigen, dass der schöne Traum eines Sokrates, eines Leibniz, klares sicheres Wissen müsse immer von Tugend, von sittlichem Handeln begleitet sein, vor der rauhen Wirklichkeit nicht durchaus Stand hält; auch eine vollkommene, Stetigkeit verbürgende Hirnmechanik muß zum veredelten Triebleben hinzukommen.

Fast möchte es wie eine Selbstanklage erscheinen, wenn ich dem gegenüber schließlich auch darauf hinweise, dass, sowenig klares Wissen allein Tugend verbürgt, sowenig auch irgend welches sichere Wissen die Sittlichkeit gefährdet – und dass dies ganz besonders gilt von der Zurückführung der seelischen Erscheinungen auf materielle Vorgänge. Nicht zu dem Grundsatz gelangt die Hirnforschung, dass Alles begreifen gleichbedeutend ist mit Alles verzeihen, im Gegenteil zu der festen Überzeugung, dass Vieles besser sein könnte und dass der Mensch oder wenigstens die gesittete menschliche Gesellschaft in weitem Maße und mehr als man gemeinhin denkt, die Fähigkeiten besitzt, sich die Vorbedingungen für ein sittliches Handeln selbst zu schaffen. Nichts kann eindringlicher auf die Selbstverantwortlichkeit des Einzelnen hinweisen, als die naturwissenschaftliche Seelenlehre, indem sie zeigt, durch welche körperlichen Einflüsse der Mensch sittlich sinken muß.

Die Medizin tritt durch die Erforschung der materiellen Bedingungen der Geistestätigkeit in unmittelbare Beziehung zu den moralischen Wissenschaften, und es ist wohl denkbar, dass, nachdem sie einmal das Problem erfaßt hat, sie unaufhaltsam bis in die vorderste Reihe der Mächte vordringen wird, welche die sittliche Hebung des Menschengeschlechts sich zur Hauptaufgabe gemacht haben. Wenn Baron Holbach im "System der Natur" weitschauenden Blickes der Überzeugung Ausdruck gibt, dass es gelingen müsse, die Sittenlehre physiologisch zu begründen, wenn er es als die Hauptaufgabe einer Moralphysiologie hinstellt, die Elemente kennen zu lernen, welche die Grundlage des Temperamentes eines Jeden bilden, um womöglich die Gesetzgebung hierauf basieren zu können – so ist die heutige medizinische Psychologie wohl zweifellos auf dem Weg nach diesem Ziele. Aber die wissenschaftliche Hirnlehre der Gegenwart unterscheidet sich von der Aufklärungsphilosophie des vorigen Jahrhunderts insofern erheblich, als sie nicht wie diese geleitet wird von instinktivem Haß gegen das "Dogma" von der Immaterialität der Seele; denn dieses hindert uns keineswegs, von der körperlichen Seite her die sittliche Hebung der Menschheit in Angriff zu nehmen – was wir verlangen müssen, ist lediglich die Anerkennung, dass die Kraft des Geistes auch nach der sittlichen Richtung hin in weitestem Maße vom Körper abhängig ist.

Diese Tatsache der großen Menge einzuprägen, erscheint zweckdienlicher, als durch Unterdrückung derselben sie gedankenloser Schädigung ihres edelsten Organs zu überantworten. Wenn gegenwärtig die gewonnene Einsicht hauptsächlich sich geltend macht im Kampf gegen den Alkohol, der ja nur allzu häufig zum furchtbarsten Feinde des Großhirns wird, so ist hiermit noch lange nicht genug getan. Allgemeine Aufklärung über die Hygiene des Gehirnlebens tut Not, und noch Vieles muß geschehen, falls es gelingen soll, wenigstens für kommende Geschlechter die natürlichen Grundlagen sittlichen Fühlens zu stärken und zu festigen. Freilich aber setzt alles erfolgreiche Handeln eine Gesellschafts-Ordnung voraus, welche gestattet, die blinden Triebe der moralisch und intellektuell Minderwertigen der tieferen Einsicht und dem besseren Wollen einer geistig-sittlichen Aristokratie zu unterwerfen.

Aber keineswegs nur unmittelbar praktische Ziele läßt die mechanische Betrachtung der Seelenerscheinungen erblicken; wie von vornherein eine der edelsten Seiten unseres Wesens, der mit den geistigen Zentren des Gehirns dem Menschengeschlecht verliehene Erkenntnistrieb sich verkörpert in dem Drang die natürliche Ordnung der Dinge auch im Reiche des Geistes zu erfassen, so führen die wirklichen Fortschritte des Wissens auch auf diesem Gebiet der Naturforschung mit der zwingenden Notwendigkeit eines Naturgesetzes in letzter Linie nur zu einer idealen Weltanschauung. Je mehr sich unserem begreifenden Verstand die ganze Größe des in der beseelten Schöpfung verwirklichten Könnens enthüllt, um so klarer fühlen wir, dass hinter der Welt der Erscheinungen Mächte walten, gegen welche menschliches Wissen kaum noch auf den Namen eines "Gleichnisses" Anspruch machen darf.