Paulinerkirche
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Aufbruch 1989

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Mein Blick aus dem Gewandhaus am 6. November 1989


Ein neuer Aufbruch für Wissenschaften in Leipzig

Die Wissenschaft in Leipzig bedarf wieder ihrer Identität. Einst war sie so anziehend, daß zwei Drittel ihrer Studenten aus dem Ausland kamen und sodann Anregungen aus dieser Stadt in ihre Heimatländer nahmen, in die sie weltweit Leipziger Traditionen einbrachten.

Leipzig war als Garten- und Lindenstadt bekannt, als das "Herz Deutschlands". Wissenschaftler wie Ernst Heinrich Weber, Gustav Theodor Fechner, August Friedrich Möbius, Rudolph Hermann Lotze und Alfred Volkmann wirkten gleichzeitig in einer Atmosphäre, die nicht nur von Persönlichkeiten des Handels und der Wirtschaft geprägt wurde, sondern auch durch Felix Mendelssohn Bartholdy, Richard Wagner, Clara und Robert Schumann, Ferdinand David sowie durch die Tätigkeit von Hermann Härtel, Salomon Hirzel, Anton Philipp Reclam, Heinrich Brockhaus und Otto Wigand, um nur einige Verleger zu nennen. Dieser schöpferischen Verflechtung, die im Gewandhaus, im Alten Theater, in den Kuchengärten und in den Privathäusern in vielen Begegnungen das Leben bereicherte, ist es zu danken, daß sich die Stadt damals so produktiv entfalten konnte und später zur Heimat wurde für Paul Flechsig, Wilhelm His, Wilhelm Wundt, Carl Friedrich Wilhelm Ludwig, Wilhelm Ostwald, Werner Heisenberg u.v.a..

Heute hat Leipzig das Zehnfache der damaligen Einwohnerzahl, während sich das geistige Potential nicht verzehnfacht hat. Doch es gibt heute viele Parallelen zu der damaligen Entwicklung. Leipzig erlebte jene Blüte erst Jahrzehnte nach dem Krieg von 1813 und den revolutionären Umwälzungen durch die Leipziger Bürger im Jahre 1830. Nun steht die Stadt Jahrzehnte nach dem Krieg wieder vor einer Zäsur, in der sie ihre Schwächen erkennen sollte, um ihre Stärken zu nutzen.

Der qualitativ bedeutsame Unterschied zur Zeit der beginnenden technischen Revolution besteht darin, daß die damalige, scheinbar unbelastete Erweiterung auf allen Gebieten das Bewußtsein für deren Folgewirkungen nicht einschloß. Der Stadt wurde mit schnellem Wachstum (in 30 Jahren von 100000 auf 500000 Einwohner um 1900) zwangsläufig der fruchtbare Boden entzogen. Großzügigkeit im Bauen ging einher mit einer Verödung der geistigen Landschaft. Die gesellschaftliche Integration fiel damit unaufhaltsam auseinander. Dieser Fehler muß in Zukunft vermieden werden. Der kulturelle Raubbau, der 1933-1945 einen unrühmlichen Höhepunkt fand, begann eigentlich schon vor der Jahrhundertwende. Selbst der sichtbare Beweis der Kulturschande aus neuerer Zeit, die 1968 erfolgte Sprengung von Universitätsgebäuden und der Universitätskirche und der Bau eines funktional mißratenen Universitätskomplexes, ist in diesem Rahmen zu sehen.

Gerade aus dieser Geschichte erwächst die verpflichtende Verantwortung, im qualitativ neuen Geflecht gesellschaftlicher Ausprägungen Leipzig wieder eine sorgsame Pflege angedeihen zu lassen. So bedarf es wieder jenes selbstverständlichen Austausches zwischen verschiedenen Erfahrungsbereichen, jener sozialen Überschaubarkeit, Kommunikation und weltoffenen Sichtweise, die im Wechselspiel mit den Messen neue Erfahrungen aufnimmt und weiter anreichert.

Die Stadt benötigt eine wissenschaftliche Infrastruktur, die sich ihrer Vorbilder bewußt ist und eigene Wissenschaftsentwicklungen und Technologien anwendbar macht.

Der tötende Raubbau an der Leipziger Umwelt in den vergangenen Jahrzehnten zwingt zu der Elementareinsicht, daß Naturverbundenheit der Grundgedanke der Wissenschaft ist. Das umfassende Verständnis biologischer Bedingungssysteme, effiziente Energienutzungen und ökologische Verbesserungen sind einige Themenbereiche, die notwendigerweise wissenschaftlich erarbeitet werden müssen.

In diesem Sinne gilt die umfassende Herausforderung, daß es bei allem, was, von wem auch immer, für den Wiederaufbau von Leipzig getan wird, nicht erneut zerstörerische Widersprüche geschaffen werden. Wenn Leipzig stark sein kann in seinem Eigenleben, ist es auch stark für andere.

Wieland Zumpe

Leipzig, den 26. Dezember 1989