Der Neue Johannisfriedhof
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Neuer Johannisfriedhof
Das Fotoarchiv Mittelmann


Der Neue Johannisfriedhof



Bereits drei Tage vor der Sprengung der Leipziger Paulinerkirche hatte die staatskriminelle „Elite“ von SED und MfS eines der schändlichsten Verbrechen in der Geschichte der Stadt Leipzig vollstreckt.

Die Raubgrabungen in der Leipziger Universitätskirche waren abgeschlossen. Die Geheimoperation, deren Namen wir heute noch nicht einmal kennen, war über mehrere Jahre von ausgewählten Kadern des Politbüros des Zentralkomitees der SED um Paul Fröhlich, Erich Mielke und Walter Ulbricht, der SED-Bezirks- und Stadtleitung, des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, des Rates des Bezirkes Leipzig, der Karl-Marx-Universität Leipzig, der Nationalen Volksarmee sowie allen hierfür erforderlichen Experten samt der ausführenden Betriebe wie dem Bau- und Montagekombinat Süd generalstabsmäßig vorbereitet worden.

Wie bei der Aktion „Licht“, den Raubgrabungen bei Dorfabbaggerungen für die Braunkohle und weiteren aufzuarbeitenden Verbrechen, handelten die Genossen skrupellos wie ihre tschekistischen Vorbilder, die die versenkte Gustloff ausnahmen.

Alle Grüfte wurden am Wochenende vor der Sprengung ausgeraubt, die Gebeine der Toten hastig in Kindersärge gepfercht und mit Kleinlieferwagen von der nicht einsehbaren Nordseite der Paulinerkirche schnell abgefahren, um möglichst keinerlei Aufsehen zu erregen. In Anbetracht der von Dr. Nadler 1964 geschätzten 800 Persönlichkeiten, die in der Paulinerkirche begraben waren, schied eine Verbrennung auf dem Südfriedhof aus. Die normalen Friedhofsbediensteten wurden an diesem Wochenende zu einem Arbeitseinsatz nach Schwedt beordert.

Der 1846 eröffnete Neue Johannisfriedhof wurde ab 1951 für Begräbnisse gesperrt, weil man große Planungen für die Karl-Marx-Universität mit Erweiterungsbauten erwog. Er befindet sich nicht einmal auf halben Wege zur Etzoldschen Sandgrube, wo später die Trümmer der Paulinerkirche und der Universitätsbauten landeten. Hier waren weitere, heute weltberühmte Persönlichkeiten des 19. und 20. Jahrhunderts begraben wie u.a. die Komponisten Carl Friedrich Zöllner (gest. am 25.09.1860) und Moritz Hauptmann (gest. am 03.01.1868), der Mathematiker Carl Gottfried Neumann (gest. am 27.03.1925) der Begründer der Psychophysik und der experimentellen Ästhetik Gustav Theodor Fechner (gest. am 18.11.1887), aber auch namhafte Gestalten ihrer Zeit wie Louise Otto-Peters und Auguste Schmidt, der Organist der Nicolaikirche Christian Hermann Schellenberg, der Verleger Friedrich Arnold Brockhaus und eine ganze Reihe international führender Wirtschaftsvertreter, die Leipzig zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur reichsten Stadt Deutschlands werden ließen.

Zielgerichtet und systematisch wurden wie bei der Paulinerkirche Unterlagen zu den Grabstellen beseitigt, Quellennachweise verschwanden aus Bibliotheken und Archiven.

Während die Täter sich einen Ehrenhain auf dem Südfriedhof einrichteten, wurden diejenigen, die Leipzig über Jahrhunderte aufbauten, anonym verscharrt.



Blickrichtung Ostplatz
Blickrichtung Ostplatz


Der Neue Johannisfriedhof wurde von der SED zynisch zum „Friedenspark“ deklariert. Die Blickrichtung stadteinwärts zum Ostplatz (Foto 9. März 2011) zeigt rechtsseitig den aufgeschütteter Hügel mit einem vermutlich aus dem Konjunkturpaket-II-Mitteln neu angelegtem Pflasterweg. Als Kind sah ich an dieser Stelle die gehäuften Grabsteine, die man achtlos zusammengeschoben hatte.



Blickrichtung stadteinwärts
Blickrichtung stadteinwärts


Die Dimension der Anlage und ihre Symbolkraft wird sichtbar vom Standort der Förderschule für Gehörlose und Schwerhörige Samuel Heinicke, Karl-Siegismund-Straße 2, mit Blickrichtung Innenstadt (Foto 9. März 2011).

Denn die Zerstörungswut der SED-Kulturverbrecher begann bereits mit der Sprengung des teilsanierten Johanniskirchturms am 9. Mai 1963. Dazu verschrien ihn die Agitatoren und Propagandisten als „hohlen Zahn“, womit sie sich jedoch selbst ihr Vorbild setzten. Denn der richtige „hohle Zahn“ – der „Uni-Riese“ als Wahrzeichen zum Sieg des Sozialismus-Kommunismus ist hier in seiner Häßlichkeit in der Stadtsilhouette ebenso zu sehen wie das gleichfalls funktionsuntüchtige Bettenhaus der Karl-Marx-Universität, dessen Abriß bereits bevorsteht.

Auf der linken Seite ist einer der gesichtslosen, 16-geschossigen Wohnwürfel zu sehen, in diesem Falle an der Straße des 18. Oktober.

Symbolisch ist auch die Größe der überdeckten Anlage. Es zeigt sich, daß auch hier bis in unsere Zeit in großem, organisierten Umfang zugedeckelt, totgeschwiegen und verdrängt wird. So lange aber keine kulturelle Identität wiederhergestellt ist, hat Leipzig keine Zukunft. So lange sich Kulturverbrecher und Profiteure analog zum „hohlen Zahn“ nun eine „Lego-Kirche“ zurechthübschen und der Betonmüll in die Innenstadt gekippt wird, während die eigentlichen Leistungsträger der Geschichte untergepflügt sind, lastet die Kulturschande weiter auf dieser Stadt.

Es bleibt nur zu hoffen, daß nicht alle unter den Beteiligten und Wissensträgern Gesinnungslumpen bleiben wollen und mit ihren Kenntnissen zur notwendigen Aufklärung der Kulturverbrechen beitragen.


Ethik: Stand 06.11.2012 – Prof. Dr. Dr. Sabine Freifrau von Schorlemer
Link: Untätigkeit, Verstoß u.a. gegen Artikel 1 der Verfassung des Freistaates Sachsen

Literatur:

Manfred Wurlitzer: Universitätskirche St. Pauli: Kunstwerke Grabstätten missachtet zerstört vergessen
Leipzig 2010