aus dem Forum Wiederaufbau Paulinerkirche Leipzig (7656)

geschrieben am 30. Mai 2006 01:26:32:

4.1. Transparenz - Der Abgrund

Was bisher über die Sprengung der Universitätskirche St. Pauli und weiterer Universitätsbauten öffentlich wurde, ist nur die „Spitze des Eisbergs“.

Nach dem letzten Gottesdienst am 23. Mai 1968 wurde das Gelände hermetisch abgesperrt. Es gelang zwar einigen, dennoch darauf zu gelangen, aber darüber kann an dieser Stelle nicht berichtet werden.

Wer das Gelände betreten wollte, mußte über einen extra für diesen Zweck angefertigten Sonderausweis verfügen. Nach dem anonymen Dokument Nr. 26 („Die Universitätskirche zu Leipzig, Dokumente einer Zerstörung“ Herausgegeben von Clemens Rosner) waren außer den Steinmetzen ca. 50 Personen beteiligt. Für diese wurden extra Lichtbilder angefertigt. Dazu gab es unterschiedliche Zutrittsberechtigungen und Befugnisse, wer welche Teile des Geländes betreten durfte.

Bereits an dieser Stelle kann sich jeder denken, daß es sich damals um eine generalstabsmäßige Planung und Leitung handelte.

Denn die Fragen, die sich hier stellen, sind folgende: Wer wählte die 50 Personen aus? Wer waren diese? Woher kamen sie? Welche Aufgaben hatten sie zu erfüllen? Welche Fachkräfte wurden eingesetzt? Unter welcher Maßgabe nahmen sie an der Operation teil? Welchen Geheimhaltungsbestimmungen wurden sie unterzogen? Welchen Nutzen brachte ihnen die Beteiligung?

Bereits an diesem kleinen Detail ist ersichtlich, daß der Organisationsapparat sehr umfangreich gewesen sein muß. Schließlich bedurfte es damals im Jahre 1968 nicht nur eines Fotografen, der umgehend die Ausweiserstellung sicherte, sondern einer größeren Kaderauswahl bzw. Kaderauswahllisten, einer entsprechenden Genehmigung dieser, ihrer „Freistellung“ von eventueller anderer Arbeit, ihres Transportes zum Universitätsgelände, ihrer Verpflegung und anderer Details, z.B. daß alles unbemerkt geschehen mußte. Bestimmt kann sich mancher gut vorstellen, wie schwierig es zu DDR-Zeiten war, eine derart große Gruppe problemlos einzuspannen, gut zu verköstigen und entsprechend auszuzahlen. Das mußte alles geplant sein.

Aber kommen wir nun zu zentraleren Fragen. Wenn es unterschiedliche Graduierungen bei den Zutrittsberechtigungen gab, so mußte es dafür triftige Gründe geben.

Die Universitätskirche St. Pauli war u.a. auch Begräbnisstätte. Sie war sogar eine der bedeutendsten Begräbnisstätten Deutschlands. Während die Grabkammern in der Nikolai- und Thomaskirche im 19. Jahrhundert durch Heizungseinbauten weitgehend entfernt wurden, blieben diese in der Universitätskirche bis auf den vorderen Bereich Chorbereich unberührt. Dies war allgemein bekannt und wurde seitens der Denkmalpflege von Dr. Nadler wiederholt in den sechziger Jahren zu ihrer Erhaltung u.a. vorgebracht.

Das Leipziger Friedhofsamt gab an, daß sich voraussichtlich 800 Leichen in der Universitätskirche befinden.

Wenn man nun aber Fotos vom Sommer des Jahre 1968 betrachtet, zu einer Zeit, da die Teile der gesprengten Universitätsbauten bereits in der Etzoldschen Sandgrube lagen, so hätte man folgerichtig denken können, daß man sich dem nun hätte widmen könnte, zumal hier keine derartigen Absperrungen und vergleichbaren Bewachungen wie vor der Sprengung zu sehen sind. Das geschah aber nicht. Und es flogen auch keine Leichenteile durch die Luft, wie sich das vielleicht mancher im Diskussionsforum vorstellt.

D.h. alles, was zuunterst in den Universitätsgebäuden war, die Grabkapellen und teils buntbemalten Grüfte der Universitätskirche, das Kellerinventar des Augusteums u.v.a. kam zuoberst in die Etzoldsche Sandgrube – ohne den umfangreichen Bewachungs- und Sicherheitsaufwand wie vor der Sprengung.

Um es abzukürzen: Die höchste Geheimhaltungsstufe und größte Zutrittsbeschränkung gab es für den Innenraum der Universitätskirche St. Pauli.

Am prätentiösesten der Gesamtaktion ausgekundschaftet, hatten die Planer, Vorbereiter und Durchführungsverantwortlichen dennoch das Problem, daß sie nicht wußten, wieviele Leichen tatsächlich geborgen werden müssen. So stand auch der konkrete Termin für die Sprengung der Universitätskirche lange Zeit nicht fest. Das bedeutete aber gleichzeitig, daß alle weiteren Arbeiten und Abläufe zur Beseitigung der Universitätsbauten hiervon abhingen. Damit ist klar, daß zumindest die Führungsebenen alle von dieser Aktion wissen mußten.

Erst als die Leichenbergungen erfolgten, konnte man abschätzen, welchen der möglichen Zeitrahmen man einhalten konnte.

Dabei handelte es sich folglich um eine andere Größenordnung als im oben genannten Dokument 26 angegeben. Schließlich stand Gellerts Grab frei im Nordchor, und die Gruft im Kreuzgang war bereits am Freitag Vormittag offen. Und mit dem Satz „Ein Sarg unter der Kanzel beim Anbohren ausgebrannt“ gab der Schreiber schließlich mehr zu, als ihm lieb war. Denn was tatsächlich der Fall war, erklärt sich recht einfach. Beim Anbohren von Grüften entweichen Gase. Diese sind durchaus entzündlich, wenn man unvorsichtigerweise mit einer brennenden Zigarette hantiert. Dies passierte in der Tat. Aber es konnte eben nicht durch den Sarg oder das Anbohren geschehen, sondern weil in der entsprechenden Gruft Leichen lagen.

All dies erfolgte in einer explizit vorbereiteten Operation am Wochenende vor der Sprengung. Eine ausführliche Schilderung dieser Geschehnisse verdient es zweifellos, einmal veröffentlicht zu werden. Hier geht es erst einmal um die Verständlichkeit des Vorganges und dessen verhängnisvolle Bedeutung über unsere Zeit hinaus.

Was sich aus Sicht der Drahtzieher natürlich aus anderen Beispielen bestens bezahlt machte, war der Umstand, daß es sich hier nicht etwa um anonyme Grabstätten ging, sondern um bedeutende Persönlichkeiten vieler Generationen wie Bürgermeister, Rektoren, Theologen, Juristen, Ärzte, Physiker sowie weiterer verdienstvoller und wohlhabender Bürger, die nicht schmucklos und fast ausschließlich nicht ohne Namensschild ihre letzte Ruhestätte in der Universitätskirche St. Pauli fanden.

Unter strengster Geheimhaltung lief an diesem einen Wochenende das Herausholen der Leichen ab, wofür die Archäologen nach Gesetzen in der ehemaligen DDR vorgeschriebenen Exhumierung eine Zeit von vier Monaten veranschlagten. Die eigentlich zuständigen Mitarbeiter des Leipziger Friedhofsamtes wurden an den fraglichen Tagen extra zu einem Auftrag nach Schwedt abdelegiert. Zum Einsatz in den Grüften kam sicherheitshalber folglich geschultes Personal in entsprechenden Schutzausrüstungen gemäß NVA-Standard.

Für alle anderen Beteiligten wie Bewacher, Transporteure und Fahrer, die dies vielleicht jetzt erst lesen, war diese Aktion ein Himmelfahrtskommando. Da die Todesursache bei manchen Verstorbenen ansteckende Krankheiten wie Pest und Pocken waren, hätte es für diese durchaus verhängnisvolle Folgen haben können.

Die Verantwortlichen kümmerte all dies wenig. Sie organisierten die Operation nur so, daß von den beteiligten Personen nichts mitgenommen werden konnte.

Denn worum es ihnen ging, war Gold- und Silberschmuck sowie alles, was irgendwie kost- und vermarktbar schien.

D.h. hier wurde nichts gesprengt, sondern hier wurden eine Universität und eine Stadt vorsätzlich und gezielt ihrer Geschichte beraubt.

Da einzig und allein das Ministerium für Staatssicherheit der DDR die Oberhoheit über Organisation und Zutrittsberechtigung der Operation hatte, stellen sich Fragen, die anschließend etwas näher erläutert werden sollen: Wo sind Verschwundenen? Wo ist das Raubgut? Wurde die Universitätskirche zur „Manövriermasse“ für den Außen- bzw. Waffenhandel der DDR? Oder anders gefragt: Ist es gerechtfertigt, daß der Außen- bzw. Waffenhandel der DDR über der Geschichte der Universität Leipzig und über der Verfassung des Freistaates Sachsen steht?