unbeantwortet

 

Herrn Prof. Dr. Norbert Lammert, MdB

- persönlich -

Präsident des Deutschen Bundestages

Deutscher Bundestag

Platz der Republik 1

 

11011 Berlin

 

Ihr Nachholbedarf jetzt

 

Leipzig, den 12. September 2012

 

Sehr geehrter Herr Prof. Lammert,

 

mit Ihrem aktuellen Aufruf erinnern Sie in den kommenden Jahren an zwei herausragende Ereignisse der Kirchengeschichte und zugleich erscheint Ihnen geboten, der „geistlichen Einheit auch eine sichtbare Gestalt gewinnen zu lassen“. Dabei wollen Sie „alles tun, dass nach den Jubiläen nicht alles so bleibt, wie es vorher war.“ Zugleich betiteln Sie Ihren Aufruf mit „ökumene jetzt“, was darauf schließen läßt, daß Sie hier und heute etwas fordern und tun wollen.

 

Das ist sehr löblich, bezeichnet es doch zugleich, daß Sie demnach bisher etwas versäumten, vernachlässigten bzw. gar wider besseres Wissen nicht bedachten oder beherzigten, wie es dem guten Glauben folgend geboten gewesen wäre.

 

So wie zu Zeiten der Reformation geht es auch heute mit den Glaubens- gleichzeitig um Machtfragen – nur in anderer Weise als Sie das bisher selbst darstellen. Denn nach der ersten deutschen Diktatur des 20. Jahrhunderts setzte unter der Führung der Sowjetunion eine zweite deutsche Diktatur alles daran, Religion und bürgerliche Kultur gezielt und vollständig auszurotten. Nach dem „tausendjährigen Reich“ sollte der Sozialismus-Kommunismus mit dem Jahre 1945 als Stunde Null den kommunistischen Menschen herausbilden. Dies vollzog sich in unterschiedlichsten Ausprägungsformen über Jahrzehnte, so daß neben der gezielten Vernichtung von Kulturwerten u.a. bürgerliches Geschichtswissen und Bildung in dieser Zeit auf der Strecke blieb. Durch den Bau der Mauer vollzog sich die Einengung des Wissens folglich nicht nur auf ostdeutscher Seite.

 

Doch was haben Sie selbst als langjähriger Bundestagsabgeordneter und Präsident getan, um die in über vierzig Jahren entstandenem ideologisch motivierten Bildungslücken abzubauen und auch Ihr eigenes Wissen seither zu vervollständigen? Wie weit ist dieser Lernprozeß gediehen, den jeder Bürger seit dem Jahre 1989 miterleben konnte?

 

Schließlich galt und gilt es in unterschiedlichster Weise, mit Aufklärung und kritischer Aufarbeitung und Auseinandersetzung wieder eine geschichtliche Kontinuität herzustellen, sowohl in der ökumene als auch in allen anderen Bereichen des Lebens.

 

Doch wenn Wissen, Bildung und Kulturwerte fehlen, ermangelt es den Menschen damit auch

an Orientierungspunkten wie Grundlagen für deren Verständnis zum Glauben. Es ist demnach schlicht notwendig für eine Kulturnation, all ihre verfügbaren Ressourcen auszuschöpfen und aus der Geschichte lernend, zu handeln. Zwar sind Mauer und DDR nicht mehr existent, aber die durch die zweite deutsche Diktatur über Jahrzehnte gerissenen Bildungslücken wirken ebenso folgenschwer weiter wie die in dieser Zeit angerichteten Schäden und Verbrechen.

Und schließlich sind – was weithin nicht gesehen wird – auch die ehemals sowjetisch gelenkten Netzwerke, die die „Wende“ mit vorantrieben in neuen Formen weiter aktiv, um Verbrechen zu vertuschen, davon zu profitieren und Geschichte in ihrem Sinne zu klittern(1).

 

Es sind folglich weithin mehr Ereignisse für Christen in unserem Land, auf die Bezug genommen werden muß und es geht nicht nur um Erinnerung. Denn das modische Unwort „Erinnerungskultur“, das Sie wiederholt verwendeten, impliziert, woran man sich nicht erinnern will und was verdrängt bzw. „unter den Teppich gekehrt“ werden soll.

Doch - Jede Kultur ist gleichzeitig Erinnerung! Und dem muß man sich auch stellen.

 

Leider haben Sie hier als Christ, Bundestagsabgeordneter und Bundestagspräsident an markanter Stelle wiederholt versagt (2,3). Statt sich Geschichtswissen anzueignen und danach zu handeln, verleugneten Sie sich und Geschichte mehrfach. Dabei ist Leipzig u.a. mit den Dominikanern, Johann Tetzel, Martin Luther und der Paulinerkirche der Ort, an dem geschichtliche Ereignisse kulminieren, die Sie nun auf Ihre Fahne geschrieben haben. Und es geht damit auch um Kardinalfragen menschlicher Ethik, wenn allein in der Leipziger Paulinerkirche 1968 die Gräber hunderter Persönlichkeiten beraubt und deren sterbliche überreste anonym verscharrt wurden.

 

Doch statt Studierenden vor einem überfüllten Auditorium an der Universität Leipzig diese Geschichte nahezubringen, referierten Sie vor einem nachweislich stasibelasteten und nicht abgewickelten Bereich der ehemaligen Karl-Marx-Universität Leipzig zum Grundgesetz – vor folglich nicht einmal hundert Leuten.

 

Statt sich im Bundestagspräsidium zur eigenen Geschichte zu bekennen und Verbrechen aufzuklären, schweigt sich Ihre Stellvertreterin, Frau Katrin Göring-Eckardt, über ihr vierjähriges Studium an der Karl-Marx-Universität Leipzig aus und macht keinerlei Anstalten als Alumna dieser Universität, das, was ihr vielleicht damals zu DDR-Zeiten vorenthalten wurde, zu ergründen. Und der Kulturwissenschaftler Dr. Wolfgang Thierse verleugnet sich ebenso und überläßt in seinem Büro einem legendierten Marxismus-Leninismus-Kader von der Karl-Marx-Universität Leipzig das Sagen.

 

Es ist nicht verwunderlich, daß gerade jene, die als SED-, Blockparteien- bzw. B-Kader Karriere in der DDR machen wollten und bis zur „Wende“ Kirche und Religion zum Teil scharf bekämpften, weiter in ihren Klischees und Antagonismen denken und handeln. Doch müssen diese ausgerechnet im Deutschen Bundestag in Berlin oder an anderen maßgeblichen Stellen wirken und sogar darüber befinden? Bis heute sind Sie den Desinformationen in Ihrem Amt, in der Bundestagsverwaltung und an anderen steuermittelfinanzierten Stellen aufgesessen und nicht nachgegangen, - wo es Pflicht gewesen wäre, Sie profund zu unterrichten. Dem Wettstreit um die beste Lösung ist unter Ihrer Leitung die völlige Intransparenz und Abkopplung der Verwaltung von normalen demokratischen Spielregeln der Kommunikation gewichen.

 

Noch weitaus folgenschwerer und verhängnisvoller ist Ihr Versagen als Bundestagsabgeordneter mit dem sogenannten „Köppe-Bericht“ verknüpft(4). Denn indem der Deutsche Bundestag seinen Verfassungsauftrag nicht wahrnahm, grenzüberschreitende SED-Verbrechen aufzuklären, wurden diese quasi legitimiert und damit Finanzierungsquellen und Netzwerken des Terrorismus nicht der Nährboden entzogen. Aus falscher Rücksichtnahme vor vermutlich auch weiter in entsprechenden Bundesbehörden agierenden Tschekisten wurden und werden Straftaten begangen, die weiter international aktuell wie folgenschwer sind(5).

 

Diesen Brief schreibe ich aus praktischer Erfahrung. Denn die Realität in Deutschland ist, daß man, wenn man sich gewissenhaft mit Kirchen wie der Paulinerkirche beschäftigt, achteinhalb Jahre Hausverbot an der Universität Leipzig erfährt.

 

Im Stile der SED spricht der Deutsche Bundestag von einem „Abriß“(6) der Paulinerkirche, der Bundestagspräsident verleugnet konkrete Kirchengeschichte und protegiert die Vertreibung der Leipziger Katholischen Kirche St. Trinitatis von ihrem geweihten Standort im Sinne eines Stasi-Kommandeurs, des Leiters der Hauptabteilung I des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR und Generalmajor im Wachregiment Feliks Dzierzynski, Heinz Gronau.

 

Wenn Sie auf diese Art Kirchentrennung überwinden wollen, klatschen natürlich alle legendierten Genossen mächtig Beifall, weil dann Ihr Aufruf zur einfältigen Werbeaktion analog eines Schlußverkaufs zu einer Einheitspartei bzw. einer Einheitsreligion verkommt.

 

Wenn es Ihnen jedoch wirklich ernst in der Sache ist, dann ist es jetzt höchste Zeit, Bildungslücken und Handlungsdefizite abzubauen. Auch für Sie, sehr geehrter Herr Bundestagspräsident.

 

Meine Bereitschaft zur gemeinsamen Erörterung der teils recht komplexen Problematiken habe ich wiederholt angeboten. Darf ich jetzt eine gemeinsame Prüfung meiner Ihnen vorgelegten Schreiben und Ausarbeitungen erwarten?

 

Mit freundlichen Grüßen

 

 

Wieland Zumpe

 

http://www.paulinerkirche.org/archiv/diktatur/index.html

 

(Verteiler aufgrund bisher fehlender Bearbeitungen vorbehalten.)

 

(1) Nur ein Beispiel: Axel Hilpert

http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/1438262/Stasi-Belastete-in-Brandenburg#/beitrag/video/1438262/Stasi-Belastete-in-Brandenburg

 

(2) Offener Brief an Bundestagspräsident Prof. Norbert Lammert vom 17.07.2011:

Deutscher Bundestag – fit für den Papst? http://www.paulinerkirche.org/Benedikt/papstbundestag.pdf

 

(3) Schreiben an Prof. Dr. Norbert Lammert vom 03.04.2012 (unbeantwortet)

http://www.paulinerkirche.org/Benedikt/lammert20120403.pdf

 

(4) Der sogenannte „Köppe-Bericht“ auf den Servern des Deutschen Bundestages, 352 Seiten

http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/12/049/1204970.pdf

 

(5) Recherchen der Publizistin Regine Igel zu Tätigkeitsfeldern des

Rechts- und Linksterrorismus durch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR

http://www.3sat.de/mediathek/?display=1&mode=play&obj=32067

 

(6) Auswertung, Dt. Bundestag Wissenschaft und Forschung (Pet 3-16-30-221-029164 Anl. 5 z. Prot. 16/72 S. 48 - 52)

http://www.paulinerkirche.org/archiv/ethik/k5/auswertung200910.html

 

Dieses Schreiben als PDF-Datei (34 KB), 3 Seiten